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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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gebürgert haben, und ich deshalb für den sich an sie an-
lehnenden Ausdruck auf allgemeines Verständniss rechnen
durfte. Ich lege indessen auf den Namen selbst nur inso-
fern einen Werth, als derselbe kurz und präcis, allerdings
mit einem, durch den Usus halb und halb sanctionirten,
philologischen Fehler, das für das Krankheitsbild characte-
ristische Symptom kennzeichnet. Sollte Jemand eine Be-
zeichnung finden, welche philologisch mehr befriedigt, ohne
das medicinische Verständniss zu erschweren, so bin ich
von vornherein einverstanden. In diesem Sinne habe ich
mich von Anfang an ausgesprochen.*)

Anstatt einer theoretischen Abstraction des Krank-
heitsbildes will ich zuvörderst einen Abriss meiner Beob-
achtungen geben:

I. Am 4. März 1863 stellte sich Herr B., ein 66-
jähriger Verwaltungsbeamter aus U., mit der Klage bei
mir vor, dass er seit Kurzem seinem Berufe nicht mehr
nachkommen könne, da ihm das Lesen von Geschriebenem
und Gedrucktem ausserordentlich schwer falle. Er bringt
einen Brief von seinem Arzte mit, in welchem derselbe
anfragt, ob Patient etwa am grauen Staar leide.

Ich gab dem Kranken die Jäger'schen Schriftproben
hin und zwar zufällig die zweite Seite. Er las von No. 7
correct die ersten 4 bis 5 Worte; dann gab er mir das
Buch mit dem Bemerken zurück, dass er nicht weiter
lesen könne. Nach einer kurzen Pause veranlasste ich
ihn, es wieder zu versuchen; er konnte lesen, aber er
brachte es wiederum nur auf einige Worte. So ging es
nach jeder Ruhepause.

*) S. l. c. -- Vgl. ferner: Rabbas, Ueber Störungen in der
Fähigkeit des Lesens bei progressiver Paralyse. Allgemeine Zeit-
schrift für Psychiatrie etc. Bd. 41. Separatabdruck, S. 8 und
Rieger, Zur Kenntniss der progressiven Paralyse. Aus den Sitzungs-
berichten der physikalisch-medicinischen Gesellschaft zu Würzburg.
Sitzung vom 13. December 1884. Separatabdruck. Seite 24. Siehe
auch unten.

gebürgert haben, und ich deshalb für den sich an sie an-
lehnenden Ausdruck auf allgemeines Verständniss rechnen
durfte. Ich lege indessen auf den Namen selbst nur inso-
fern einen Werth, als derselbe kurz und präcis, allerdings
mit einem, durch den Usus halb und halb sanctionirten,
philologischen Fehler, das für das Krankheitsbild characte-
ristische Symptom kennzeichnet. Sollte Jemand eine Be-
zeichnung finden, welche philologisch mehr befriedigt, ohne
das medicinische Verständniss zu erschweren, so bin ich
von vornherein einverstanden. In diesem Sinne habe ich
mich von Anfang an ausgesprochen.*)

Anstatt einer theoretischen Abstraction des Krank-
heitsbildes will ich zuvörderst einen Abriss meiner Beob-
achtungen geben:

I. Am 4. März 1863 stellte sich Herr B., ein 66-
jähriger Verwaltungsbeamter aus U., mit der Klage bei
mir vor, dass er seit Kurzem seinem Berufe nicht mehr
nachkommen könne, da ihm das Lesen von Geschriebenem
und Gedrucktem ausserordentlich schwer falle. Er bringt
einen Brief von seinem Arzte mit, in welchem derselbe
anfragt, ob Patient etwa am grauen Staar leide.

Ich gab dem Kranken die Jäger’schen Schriftproben
hin und zwar zufällig die zweite Seite. Er las von No. 7
correct die ersten 4 bis 5 Worte; dann gab er mir das
Buch mit dem Bemerken zurück, dass er nicht weiter
lesen könne. Nach einer kurzen Pause veranlasste ich
ihn, es wieder zu versuchen; er konnte lesen, aber er
brachte es wiederum nur auf einige Worte. So ging es
nach jeder Ruhepause.

*) S. l. c. — Vgl. ferner: Rabbas, Ueber Störungen in der
Fähigkeit des Lesens bei progressiver Paralyse. Allgemeine Zeit-
schrift für Psychiatrie etc. Bd. 41. Separatabdruck, S. 8 und
Rieger, Zur Kenntniss der progressiven Paralyse. Aus den Sitzungs-
berichten der physikalisch-medicinischen Gesellschaft zu Würzburg.
Sitzung vom 13. December 1884. Separatabdruck. Seite 24. Siehe
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[2/0006] gebürgert haben, und ich deshalb für den sich an sie an- lehnenden Ausdruck auf allgemeines Verständniss rechnen durfte. Ich lege indessen auf den Namen selbst nur inso- fern einen Werth, als derselbe kurz und präcis, allerdings mit einem, durch den Usus halb und halb sanctionirten, philologischen Fehler, das für das Krankheitsbild characte- ristische Symptom kennzeichnet. Sollte Jemand eine Be- zeichnung finden, welche philologisch mehr befriedigt, ohne das medicinische Verständniss zu erschweren, so bin ich von vornherein einverstanden. In diesem Sinne habe ich mich von Anfang an ausgesprochen. *) Anstatt einer theoretischen Abstraction des Krank- heitsbildes will ich zuvörderst einen Abriss meiner Beob- achtungen geben: I. Am 4. März 1863 stellte sich Herr B., ein 66- jähriger Verwaltungsbeamter aus U., mit der Klage bei mir vor, dass er seit Kurzem seinem Berufe nicht mehr nachkommen könne, da ihm das Lesen von Geschriebenem und Gedrucktem ausserordentlich schwer falle. Er bringt einen Brief von seinem Arzte mit, in welchem derselbe anfragt, ob Patient etwa am grauen Staar leide. Ich gab dem Kranken die Jäger’schen Schriftproben hin und zwar zufällig die zweite Seite. Er las von No. 7 correct die ersten 4 bis 5 Worte; dann gab er mir das Buch mit dem Bemerken zurück, dass er nicht weiter lesen könne. Nach einer kurzen Pause veranlasste ich ihn, es wieder zu versuchen; er konnte lesen, aber er brachte es wiederum nur auf einige Worte. So ging es nach jeder Ruhepause. *) S. l. c. — Vgl. ferner: Rabbas, Ueber Störungen in der Fähigkeit des Lesens bei progressiver Paralyse. Allgemeine Zeit- schrift für Psychiatrie etc. Bd. 41. Separatabdruck, S. 8 und Rieger, Zur Kenntniss der progressiven Paralyse. Aus den Sitzungs- berichten der physikalisch-medicinischen Gesellschaft zu Würzburg. Sitzung vom 13. December 1884. Separatabdruck. Seite 24. Siehe auch unten.

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/6>, abgerufen am 28.03.2024.