Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

eine grosse Erschöpfung und Kraftlosigkeit ein, jedoch
waren keine Lähmungen, weder an den Extremitäten noch
am Gaumen, an der Zunge oder an den Augen vorhan-
den; nur hie und da ein leichtes Verschlucken beim Trin-
ken und zuweilen beim Sprechen eine leichte Undeutlich-
keit in den letzten Silben eines Satzes. Die Temporal-
arterien zeigten starkes, nicht verknöchertes Atherom, der
Puls härtlich und gross. Das Herz war nicht vergrössert
nachzuweisen, aber über allen Ostien hörte man ein systoli-
sches Hauchen; Urin, zweimal untersucht, erwies sich
frei von Zucker und Eiweis; Appetit, Verdauung, Stuhl-
gang ungestört.

Hinsichtlich der eigenthümlichen Abneigung des Pa-
tienten, sich untersuchen zu lassen, hat der Hausarzt
augenscheinlich dieselben Erfahrungen gemacht, wie Ver-
fasser, denn er fügt, sich quasi entschuldigend, hinzu:
Ein für alle Male sei hier bemerkt, dass Patient einer
öfteren und eingehenden Untersuchung einen solchen
Widerwillen entgegensetzte, dass nicht Alles so genau,
wie wünschenswerth, erhoben werden konnte.

Das Jahr 1882 verlief im Allgemeinen befriedigend.
Patient hatte seine Berufsthätigkeit aufgegeben und bei
ruhigerer Lebensweise stärkten sich seine Kräfte etwas;
er konnte sich auch geistig und schriftstellerisch beschäf-
tigen, was wesentlich zur Hebung seines Lebensmuthes
beitrug.

Im Sommer 1883 stellte sich im Gefolge einer un-
bedeutenden Störung der Darmfunction wieder eine tiefe
und andauernde hypochondrische Verstimmung ein und
bald darauf wiederholte ohnmachtsähnliche, apoplecti-epi-
leptiforme Anfälle. Mit oder ohne vorhergehendes Unbe-
hagen, zuweilen nach vorausgegangener Confusion der
Gedanken trat Bewusstlosigkeit ein, stertoröser Athem,
theilweis Schaum vor dem Mund, Zuckungen der Gesichts-
muskeln, Gliederstarre, Schüttelkrämpfe, Verdrehung der

eine grosse Erschöpfung und Kraftlosigkeit ein, jedoch
waren keine Lähmungen, weder an den Extremitäten noch
am Gaumen, an der Zunge oder an den Augen vorhan-
den; nur hie und da ein leichtes Verschlucken beim Trin-
ken und zuweilen beim Sprechen eine leichte Undeutlich-
keit in den letzten Silben eines Satzes. Die Temporal-
arterien zeigten starkes, nicht verknöchertes Atherom, der
Puls härtlich und gross. Das Herz war nicht vergrössert
nachzuweisen, aber über allen Ostien hörte man ein systoli-
sches Hauchen; Urin, zweimal untersucht, erwies sich
frei von Zucker und Eiweis; Appetit, Verdauung, Stuhl-
gang ungestört.

Hinsichtlich der eigenthümlichen Abneigung des Pa-
tienten, sich untersuchen zu lassen, hat der Hausarzt
augenscheinlich dieselben Erfahrungen gemacht, wie Ver-
fasser, denn er fügt, sich quasi entschuldigend, hinzu:
Ein für alle Male sei hier bemerkt, dass Patient einer
öfteren und eingehenden Untersuchung einen solchen
Widerwillen entgegensetzte, dass nicht Alles so genau,
wie wünschenswerth, erhoben werden konnte.

Das Jahr 1882 verlief im Allgemeinen befriedigend.
Patient hatte seine Berufsthätigkeit aufgegeben und bei
ruhigerer Lebensweise stärkten sich seine Kräfte etwas;
er konnte sich auch geistig und schriftstellerisch beschäf-
tigen, was wesentlich zur Hebung seines Lebensmuthes
beitrug.

Im Sommer 1883 stellte sich im Gefolge einer un-
bedeutenden Störung der Darmfunction wieder eine tiefe
und andauernde hypochondrische Verstimmung ein und
bald darauf wiederholte ohnmachtsähnliche, apoplecti-epi-
leptiforme Anfälle. Mit oder ohne vorhergehendes Unbe-
hagen, zuweilen nach vorausgegangener Confusion der
Gedanken trat Bewusstlosigkeit ein, stertoröser Athem,
theilweis Schaum vor dem Mund, Zuckungen der Gesichts-
muskeln, Gliederstarre, Schüttelkrämpfe, Verdrehung der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0010" n="6"/>
eine grosse Erschöpfung und Kraftlosigkeit ein, jedoch<lb/>
waren keine Lähmungen, weder an den Extremitäten noch<lb/>
am Gaumen, an der Zunge oder an den Augen vorhan-<lb/>
den; nur hie und da ein leichtes Verschlucken beim Trin-<lb/>
ken und zuweilen beim Sprechen eine leichte Undeutlich-<lb/>
keit in den letzten Silben eines Satzes. Die Temporal-<lb/>
arterien zeigten starkes, nicht verknöchertes Atherom, der<lb/>
Puls härtlich und gross. Das Herz war nicht vergrössert<lb/>
nachzuweisen, aber über allen Ostien hörte man ein systoli-<lb/>
sches Hauchen; Urin, zweimal untersucht, erwies sich<lb/>
frei von Zucker und Eiweis; Appetit, Verdauung, Stuhl-<lb/>
gang ungestört.</p><lb/>
        <p>Hinsichtlich der eigenthümlichen Abneigung des Pa-<lb/>
tienten, sich untersuchen zu lassen, hat der Hausarzt<lb/>
augenscheinlich dieselben Erfahrungen gemacht, wie Ver-<lb/>
fasser, denn er fügt, sich quasi entschuldigend, hinzu:<lb/>
Ein für alle Male sei hier bemerkt, dass Patient einer<lb/>
öfteren und eingehenden Untersuchung einen solchen<lb/>
Widerwillen entgegensetzte, dass nicht Alles so genau,<lb/>
wie wünschenswerth, erhoben werden konnte.</p><lb/>
        <p>Das Jahr 1882 verlief im Allgemeinen befriedigend.<lb/>
Patient hatte seine Berufsthätigkeit aufgegeben und bei<lb/>
ruhigerer Lebensweise stärkten sich seine Kräfte etwas;<lb/>
er konnte sich auch geistig und schriftstellerisch beschäf-<lb/>
tigen, was wesentlich zur Hebung seines Lebensmuthes<lb/>
beitrug.</p><lb/>
        <p>Im Sommer 1883 stellte sich im Gefolge einer un-<lb/>
bedeutenden Störung der Darmfunction wieder eine tiefe<lb/>
und andauernde hypochondrische Verstimmung ein und<lb/>
bald darauf wiederholte ohnmachtsähnliche, apoplecti-epi-<lb/>
leptiforme Anfälle. Mit oder ohne vorhergehendes Unbe-<lb/>
hagen, zuweilen nach vorausgegangener Confusion der<lb/>
Gedanken trat Bewusstlosigkeit ein, stertoröser Athem,<lb/>
theilweis Schaum vor dem Mund, Zuckungen der Gesichts-<lb/>
muskeln, Gliederstarre, Schüttelkrämpfe, Verdrehung der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0010] eine grosse Erschöpfung und Kraftlosigkeit ein, jedoch waren keine Lähmungen, weder an den Extremitäten noch am Gaumen, an der Zunge oder an den Augen vorhan- den; nur hie und da ein leichtes Verschlucken beim Trin- ken und zuweilen beim Sprechen eine leichte Undeutlich- keit in den letzten Silben eines Satzes. Die Temporal- arterien zeigten starkes, nicht verknöchertes Atherom, der Puls härtlich und gross. Das Herz war nicht vergrössert nachzuweisen, aber über allen Ostien hörte man ein systoli- sches Hauchen; Urin, zweimal untersucht, erwies sich frei von Zucker und Eiweis; Appetit, Verdauung, Stuhl- gang ungestört. Hinsichtlich der eigenthümlichen Abneigung des Pa- tienten, sich untersuchen zu lassen, hat der Hausarzt augenscheinlich dieselben Erfahrungen gemacht, wie Ver- fasser, denn er fügt, sich quasi entschuldigend, hinzu: Ein für alle Male sei hier bemerkt, dass Patient einer öfteren und eingehenden Untersuchung einen solchen Widerwillen entgegensetzte, dass nicht Alles so genau, wie wünschenswerth, erhoben werden konnte. Das Jahr 1882 verlief im Allgemeinen befriedigend. Patient hatte seine Berufsthätigkeit aufgegeben und bei ruhigerer Lebensweise stärkten sich seine Kräfte etwas; er konnte sich auch geistig und schriftstellerisch beschäf- tigen, was wesentlich zur Hebung seines Lebensmuthes beitrug. Im Sommer 1883 stellte sich im Gefolge einer un- bedeutenden Störung der Darmfunction wieder eine tiefe und andauernde hypochondrische Verstimmung ein und bald darauf wiederholte ohnmachtsähnliche, apoplecti-epi- leptiforme Anfälle. Mit oder ohne vorhergehendes Unbe- hagen, zuweilen nach vorausgegangener Confusion der Gedanken trat Bewusstlosigkeit ein, stertoröser Athem, theilweis Schaum vor dem Mund, Zuckungen der Gesichts- muskeln, Gliederstarre, Schüttelkrämpfe, Verdrehung der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/10
Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/10>, abgerufen am 19.04.2024.