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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Geißbub.
kommen sie den ganzen Sommer über hinab, auf keine befreundete
Alp können sie zum Zeitvertreib gehen; zu keinem theilnehmenden
Menschen vermag das Johlen des Hirtenrufes zu dringen. Unter
sich sprechen diese Troglodyten ebenso wenig, und nur ein kurz ab¬
gebrochener gellender Ruf ladet die Ziegen zum dargereichten Salz
und zum Melken ein. Die Schaafe aber irren, ohne je die Hütte
zu sehen, immer auf den Kämmen und Graten umher. Was dann
im Spätjahr die Herde, nachdem sie nach Grindelwald wieder
hinabgezogen ist, noch übrig gelassen hat, das weiden endlich die
Gemsen noch ab. -- Noch trauriger ist der Oberaarhirt daran;
im Jahre 1841 bei Agassiz's Besteigung der Jungfrau hatte man
ein armes Bübchen von zwölf Jahren aus dem Wallis daherauf
geschickt, das schlecht gekleidet und schlecht genährt, ein stupides
Aussehen hatte. Es war für drei Monate mit Lebensmitteln ver¬
sehen; sein Brod war so hart wie der Granit seiner jämmerlichen
Hütte, und der Käse war trockner als das Heu, auf dem das arme
Kind schlief. -- So schlimm haben es nun freilich nicht alle
Schäfler; es giebt deren, die ein ganz gemüthliches Leben führen.
Da ist z. B. der Schäfler auf den Churfirst-Alpen, ein ungemein
freundlicher und beredter Bursch, der aber das Unglück hat, keine
Hütte zu besitzen. Man wollte ihm droben unterm Falzloch, wo
der Uebergang ins Toggenburg ist, eine Hütte bauen; aber die
kunstlosen Naturmauern wurden, wie der Mann behauptet, immer
wieder von unsichtbaren Händen eingerissen und die Arbeiter mit
Steinwürfen verfolgt, so daß der Bau unmöglich wurde und auf¬
gegeben werden mußte. Seitdem weiden die Schaafe unangefoch¬
ten im Felsenkessel des Käsera-Ruck, und der Hirt hospitirt in den
Hütten von Büls.

Dies ist eine der Kehrseiten vom Leben in den freien Alpen.


Der Geißbub.
kommen ſie den ganzen Sommer über hinab, auf keine befreundete
Alp können ſie zum Zeitvertreib gehen; zu keinem theilnehmenden
Menſchen vermag das Johlen des Hirtenrufes zu dringen. Unter
ſich ſprechen dieſe Troglodyten ebenſo wenig, und nur ein kurz ab¬
gebrochener gellender Ruf ladet die Ziegen zum dargereichten Salz
und zum Melken ein. Die Schaafe aber irren, ohne je die Hütte
zu ſehen, immer auf den Kämmen und Graten umher. Was dann
im Spätjahr die Herde, nachdem ſie nach Grindelwald wieder
hinabgezogen iſt, noch übrig gelaſſen hat, das weiden endlich die
Gemſen noch ab. — Noch trauriger iſt der Oberaarhirt daran;
im Jahre 1841 bei Agaſſiz's Beſteigung der Jungfrau hatte man
ein armes Bübchen von zwölf Jahren aus dem Wallis daherauf
geſchickt, das ſchlecht gekleidet und ſchlecht genährt, ein ſtupides
Ausſehen hatte. Es war für drei Monate mit Lebensmitteln ver¬
ſehen; ſein Brod war ſo hart wie der Granit ſeiner jämmerlichen
Hütte, und der Käſe war trockner als das Heu, auf dem das arme
Kind ſchlief. — So ſchlimm haben es nun freilich nicht alle
Schäfler; es giebt deren, die ein ganz gemüthliches Leben führen.
Da iſt z. B. der Schäfler auf den Churfirſt-Alpen, ein ungemein
freundlicher und beredter Burſch, der aber das Unglück hat, keine
Hütte zu beſitzen. Man wollte ihm droben unterm Falzloch, wo
der Uebergang ins Toggenburg iſt, eine Hütte bauen; aber die
kunſtloſen Naturmauern wurden, wie der Mann behauptet, immer
wieder von unſichtbaren Händen eingeriſſen und die Arbeiter mit
Steinwürfen verfolgt, ſo daß der Bau unmöglich wurde und auf¬
gegeben werden mußte. Seitdem weiden die Schaafe unangefoch¬
ten im Felſenkeſſel des Käſera-Ruck, und der Hirt hospitirt in den
Hütten von Büls.

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[372/0412] Der Geißbub. kommen ſie den ganzen Sommer über hinab, auf keine befreundete Alp können ſie zum Zeitvertreib gehen; zu keinem theilnehmenden Menſchen vermag das Johlen des Hirtenrufes zu dringen. Unter ſich ſprechen dieſe Troglodyten ebenſo wenig, und nur ein kurz ab¬ gebrochener gellender Ruf ladet die Ziegen zum dargereichten Salz und zum Melken ein. Die Schaafe aber irren, ohne je die Hütte zu ſehen, immer auf den Kämmen und Graten umher. Was dann im Spätjahr die Herde, nachdem ſie nach Grindelwald wieder hinabgezogen iſt, noch übrig gelaſſen hat, das weiden endlich die Gemſen noch ab. — Noch trauriger iſt der Oberaarhirt daran; im Jahre 1841 bei Agaſſiz's Beſteigung der Jungfrau hatte man ein armes Bübchen von zwölf Jahren aus dem Wallis daherauf geſchickt, das ſchlecht gekleidet und ſchlecht genährt, ein ſtupides Ausſehen hatte. Es war für drei Monate mit Lebensmitteln ver¬ ſehen; ſein Brod war ſo hart wie der Granit ſeiner jämmerlichen Hütte, und der Käſe war trockner als das Heu, auf dem das arme Kind ſchlief. — So ſchlimm haben es nun freilich nicht alle Schäfler; es giebt deren, die ein ganz gemüthliches Leben führen. Da iſt z. B. der Schäfler auf den Churfirſt-Alpen, ein ungemein freundlicher und beredter Burſch, der aber das Unglück hat, keine Hütte zu beſitzen. Man wollte ihm droben unterm Falzloch, wo der Uebergang ins Toggenburg iſt, eine Hütte bauen; aber die kunſtloſen Naturmauern wurden, wie der Mann behauptet, immer wieder von unſichtbaren Händen eingeriſſen und die Arbeiter mit Steinwürfen verfolgt, ſo daß der Bau unmöglich wurde und auf¬ gegeben werden mußte. Seitdem weiden die Schaafe unangefoch¬ ten im Felſenkeſſel des Käſera-Ruck, und der Hirt hospitirt in den Hütten von Büls. Dies iſt eine der Kehrſeiten vom Leben in den freien Alpen.

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/412>, abgerufen am 22.11.2024.