halten vermag, weiter klettern muß. Hat er dann wirklich die Thiere erreicht, dann kommt erst das eigentlich Lebensgefährliche der Aufgabe. Auf schmaler Felsenkante muß er das Thier er¬ greifen, nach sich ziehen oder Angesichts des oft schaurigen Abgrun¬ des das Thier sich über den Kopf heben und so belastet, nur mit einer freien Hand zum Anklammern, den Rückweg antreten, bis er das Seil erreicht, an dem dann das wiedergewonnene Herdenhaupt gebunden und emporgezogen wird. Dieses Manöver setzen solche Buben drei, vier und mehrmal fort, bis sie ihren Zweck erreicht haben. Sie sind durch Nichts abzuschrecken, und es ist oft vielleicht weniger der eigentliche Werth, um den es sich hier handelt, als das eigenwillige, starrköpfige Durchsetzen eines einmal gefaßten Entschlusses. --
Und dann der Lohn aller dieser Gefahren, Entbehrungen und Widerwärtigkeiten? -- Betrachten wir die Lebensweise dieser origi¬ nellen Halbwilden im Kulturlande ein wenig näher. Der Geißer treibt gewöhnlich Morgens sehr früh vom Thal aus eine große Menge Milchgeißen ins Gebirge hinauf. Er bat sein näschiges, neugieriges, überall hin excursirendes Hornvölklein gut in Ordnung und kommt mit demselben viel rascher in die Höhe hinauf, als man glauben sollte; ehe die Sonne nur einigermaßen hoch steht, ist er schon mehrere Stunden weit von seinem Dorfe. Dort überläßt er die Herde ihrem bon plaisir, legt an einem ihm bequemen Platze sich nieder und verträumt im Ideenkreise seiner Geißbubenphilosophie den Tag. Hat er Hunger, so muß ein Stück hartes, trockenes Gerstenbrod und etwas Käse ihm zur Sättigung dienen, -- hat er Durst, so zieht er die erste beste Ziege herbei, legt sich unter ihre Euter und melkt in den Mund hinein, daß es schäumt. Rückt dann der hohe Mittag heran, der mit sengender Gluth die Felsen¬ wände erhitzt, dann sucht der Knabe für sich und seine Herde ein schattiges Plätzchen, wo alle zusammen Siesta halten. So auch für einbrechende Hochgewitter hat er Höhlen oder Felsenbuchten,
Der Geißbub.
halten vermag, weiter klettern muß. Hat er dann wirklich die Thiere erreicht, dann kommt erſt das eigentlich Lebensgefährliche der Aufgabe. Auf ſchmaler Felſenkante muß er das Thier er¬ greifen, nach ſich ziehen oder Angeſichts des oft ſchaurigen Abgrun¬ des das Thier ſich über den Kopf heben und ſo belaſtet, nur mit einer freien Hand zum Anklammern, den Rückweg antreten, bis er das Seil erreicht, an dem dann das wiedergewonnene Herdenhaupt gebunden und emporgezogen wird. Dieſes Manöver ſetzen ſolche Buben drei, vier und mehrmal fort, bis ſie ihren Zweck erreicht haben. Sie ſind durch Nichts abzuſchrecken, und es iſt oft vielleicht weniger der eigentliche Werth, um den es ſich hier handelt, als das eigenwillige, ſtarrköpfige Durchſetzen eines einmal gefaßten Entſchluſſes. —
Und dann der Lohn aller dieſer Gefahren, Entbehrungen und Widerwärtigkeiten? — Betrachten wir die Lebensweiſe dieſer origi¬ nellen Halbwilden im Kulturlande ein wenig näher. Der Geißer treibt gewöhnlich Morgens ſehr früh vom Thal aus eine große Menge Milchgeißen ins Gebirge hinauf. Er bat ſein näſchiges, neugieriges, überall hin excurſirendes Hornvölklein gut in Ordnung und kommt mit demſelben viel raſcher in die Höhe hinauf, als man glauben ſollte; ehe die Sonne nur einigermaßen hoch ſteht, iſt er ſchon mehrere Stunden weit von ſeinem Dorfe. Dort überläßt er die Herde ihrem bon plaisir, legt an einem ihm bequemen Platze ſich nieder und verträumt im Ideenkreiſe ſeiner Geißbubenphiloſophie den Tag. Hat er Hunger, ſo muß ein Stück hartes, trockenes Gerſtenbrod und etwas Käſe ihm zur Sättigung dienen, — hat er Durſt, ſo zieht er die erſte beſte Ziege herbei, legt ſich unter ihre Euter und melkt in den Mund hinein, daß es ſchäumt. Rückt dann der hohe Mittag heran, der mit ſengender Gluth die Felſen¬ wände erhitzt, dann ſucht der Knabe für ſich und ſeine Herde ein ſchattiges Plätzchen, wo alle zuſammen Sieſta halten. So auch für einbrechende Hochgewitter hat er Höhlen oder Felſenbuchten,
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Der Geißbub.
halten vermag, weiter klettern muß. Hat er dann wirklich die
Thiere erreicht, dann kommt erſt das eigentlich Lebensgefährliche
der Aufgabe. Auf ſchmaler Felſenkante muß er das Thier er¬
greifen, nach ſich ziehen oder Angeſichts des oft ſchaurigen Abgrun¬
des das Thier ſich über den Kopf heben und ſo belaſtet, nur mit
einer freien Hand zum Anklammern, den Rückweg antreten, bis er
das Seil erreicht, an dem dann das wiedergewonnene Herdenhaupt
gebunden und emporgezogen wird. Dieſes Manöver ſetzen ſolche
Buben drei, vier und mehrmal fort, bis ſie ihren Zweck erreicht
haben. Sie ſind durch Nichts abzuſchrecken, und es iſt oft vielleicht
weniger der eigentliche Werth, um den es ſich hier handelt, als
das eigenwillige, ſtarrköpfige Durchſetzen eines einmal gefaßten
Entſchluſſes. —
Und dann der Lohn aller dieſer Gefahren, Entbehrungen und
Widerwärtigkeiten? — Betrachten wir die Lebensweiſe dieſer origi¬
nellen Halbwilden im Kulturlande ein wenig näher. Der Geißer
treibt gewöhnlich Morgens ſehr früh vom Thal aus eine große Menge
Milchgeißen ins Gebirge hinauf. Er bat ſein näſchiges, neugieriges,
überall hin excurſirendes Hornvölklein gut in Ordnung und kommt
mit demſelben viel raſcher in die Höhe hinauf, als man glauben
ſollte; ehe die Sonne nur einigermaßen hoch ſteht, iſt er ſchon
mehrere Stunden weit von ſeinem Dorfe. Dort überläßt er die
Herde ihrem bon plaisir, legt an einem ihm bequemen Platze
ſich nieder und verträumt im Ideenkreiſe ſeiner Geißbubenphiloſophie
den Tag. Hat er Hunger, ſo muß ein Stück hartes, trockenes
Gerſtenbrod und etwas Käſe ihm zur Sättigung dienen, — hat
er Durſt, ſo zieht er die erſte beſte Ziege herbei, legt ſich unter
ihre Euter und melkt in den Mund hinein, daß es ſchäumt. Rückt
dann der hohe Mittag heran, der mit ſengender Gluth die Felſen¬
wände erhitzt, dann ſucht der Knabe für ſich und ſeine Herde ein
ſchattiges Plätzchen, wo alle zuſammen Sieſta halten. So auch
für einbrechende Hochgewitter hat er Höhlen oder Felſenbuchten,
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/408>, abgerufen am 16.07.2024.
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