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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Geißbub.

Aber auch den Gefahren gegenüber sind solche Buben völlig
Herren ihres Revieres; von der Vermessenheit ihres Muthes, von
ihrer spannfrischen, nervigen Schlagbereitschaft, von ihrer momen¬
tanen Entschlossenheit, macht man sich kaum einen Begriff. Sie
sind gleichsam auf der Mensur großgewachsen, haben von Jugend
auf den feindlichen Elementen trotzen lernen, und darum überrascht
sie auch durchaus Nichts. Wehe dem Räuber, der ein Herdestück
anzugreifen wagt, -- er hats mit einem hartnäckigen, besonnenen
und entschlossenen Kämpfer zu thun. Am Meisten habens die
Buben auf die großen Raubvögel abgesehen; wissen sie das Nest
eines solchen, so ists um die junge Brut geschehen. Beispiele von
den frechesten Wagestücken, um Nester von Stoßvögeln auszuneh¬
men, giebts in den Alpen allenthalben. Aber auch den Alten ge¬
genüber stehen sie ihren Mann. Ein Bravourstück jüngster Zeit
möge hier Platz finden. Gegen Ende des Juli 1859 befand sich
der vierzehnjährige Knabe Jann Guler auf einer Schaafalp im
Gemeindsgebiete von Klosters (Prätigau), da wo es "im Hafen"
heißt. Schon früher hatte er einigemal einen großen Raubvogel
in den Lüften über seinem Weideplatze kreisen sehen und war des¬
halb besonders aufmerksam. Eines Tages sieht er plötzlich seine
Thiere aufgeschreckt auseinanderfahren, und in der nächsten Sekunde
stürzt ein völlig ausgewachsener Adler hernieder und verfolgt ein
in die Legföhren sich flüchtendes Lamm. Der Knabe, rasch ent¬
schlossen, springt mit seinem eisenbeschlagenen Bergstecken zu dem
Gebüsch, in welches der Raubvogel sich so völlig verstrickt hatte,
daß er von den Flügeln keinen Gebrauch machen konnte; hier
hämmerte nun der Knabe so lange energisch auf den Adler ein,
bis dieser tödtlich getroffen erlag.

Nicht mindere Besonnenheit, Muth, Ausdauer und Gewandt¬
heit entwickeln die Geißbuben, wenn eines ihrer Thiere sich ver¬
stiegen oder "verjuckt" hat, d. h. durch einen Sprung auf einen
Felsensatz gekommen ist, von dem es weder vor noch zurück kann.

Der Geißbub.

Aber auch den Gefahren gegenüber ſind ſolche Buben völlig
Herren ihres Revieres; von der Vermeſſenheit ihres Muthes, von
ihrer ſpannfriſchen, nervigen Schlagbereitſchaft, von ihrer momen¬
tanen Entſchloſſenheit, macht man ſich kaum einen Begriff. Sie
ſind gleichſam auf der Menſur großgewachſen, haben von Jugend
auf den feindlichen Elementen trotzen lernen, und darum überraſcht
ſie auch durchaus Nichts. Wehe dem Räuber, der ein Herdeſtück
anzugreifen wagt, — er hats mit einem hartnäckigen, beſonnenen
und entſchloſſenen Kämpfer zu thun. Am Meiſten habens die
Buben auf die großen Raubvögel abgeſehen; wiſſen ſie das Neſt
eines ſolchen, ſo iſts um die junge Brut geſchehen. Beiſpiele von
den frecheſten Wageſtücken, um Neſter von Stoßvögeln auszuneh¬
men, giebts in den Alpen allenthalben. Aber auch den Alten ge¬
genüber ſtehen ſie ihren Mann. Ein Bravourſtück jüngſter Zeit
möge hier Platz finden. Gegen Ende des Juli 1859 befand ſich
der vierzehnjährige Knabe Jann Guler auf einer Schaafalp im
Gemeindsgebiete von Kloſters (Prätigau), da wo es „im Hafen“
heißt. Schon früher hatte er einigemal einen großen Raubvogel
in den Lüften über ſeinem Weideplatze kreiſen ſehen und war des¬
halb beſonders aufmerkſam. Eines Tages ſieht er plötzlich ſeine
Thiere aufgeſchreckt auseinanderfahren, und in der nächſten Sekunde
ſtürzt ein völlig ausgewachſener Adler hernieder und verfolgt ein
in die Legföhren ſich flüchtendes Lamm. Der Knabe, raſch ent¬
ſchloſſen, ſpringt mit ſeinem eiſenbeſchlagenen Bergſtecken zu dem
Gebüſch, in welches der Raubvogel ſich ſo völlig verſtrickt hatte,
daß er von den Flügeln keinen Gebrauch machen konnte; hier
hämmerte nun der Knabe ſo lange energiſch auf den Adler ein,
bis dieſer tödtlich getroffen erlag.

Nicht mindere Beſonnenheit, Muth, Ausdauer und Gewandt¬
heit entwickeln die Geißbuben, wenn eines ihrer Thiere ſich ver¬
ſtiegen oder „verjuckt“ hat, d. h. durch einen Sprung auf einen
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[366/0406] Der Geißbub. Aber auch den Gefahren gegenüber ſind ſolche Buben völlig Herren ihres Revieres; von der Vermeſſenheit ihres Muthes, von ihrer ſpannfriſchen, nervigen Schlagbereitſchaft, von ihrer momen¬ tanen Entſchloſſenheit, macht man ſich kaum einen Begriff. Sie ſind gleichſam auf der Menſur großgewachſen, haben von Jugend auf den feindlichen Elementen trotzen lernen, und darum überraſcht ſie auch durchaus Nichts. Wehe dem Räuber, der ein Herdeſtück anzugreifen wagt, — er hats mit einem hartnäckigen, beſonnenen und entſchloſſenen Kämpfer zu thun. Am Meiſten habens die Buben auf die großen Raubvögel abgeſehen; wiſſen ſie das Neſt eines ſolchen, ſo iſts um die junge Brut geſchehen. Beiſpiele von den frecheſten Wageſtücken, um Neſter von Stoßvögeln auszuneh¬ men, giebts in den Alpen allenthalben. Aber auch den Alten ge¬ genüber ſtehen ſie ihren Mann. Ein Bravourſtück jüngſter Zeit möge hier Platz finden. Gegen Ende des Juli 1859 befand ſich der vierzehnjährige Knabe Jann Guler auf einer Schaafalp im Gemeindsgebiete von Kloſters (Prätigau), da wo es „im Hafen“ heißt. Schon früher hatte er einigemal einen großen Raubvogel in den Lüften über ſeinem Weideplatze kreiſen ſehen und war des¬ halb beſonders aufmerkſam. Eines Tages ſieht er plötzlich ſeine Thiere aufgeſchreckt auseinanderfahren, und in der nächſten Sekunde ſtürzt ein völlig ausgewachſener Adler hernieder und verfolgt ein in die Legföhren ſich flüchtendes Lamm. Der Knabe, raſch ent¬ ſchloſſen, ſpringt mit ſeinem eiſenbeſchlagenen Bergſtecken zu dem Gebüſch, in welches der Raubvogel ſich ſo völlig verſtrickt hatte, daß er von den Flügeln keinen Gebrauch machen konnte; hier hämmerte nun der Knabe ſo lange energiſch auf den Adler ein, bis dieſer tödtlich getroffen erlag. Nicht mindere Beſonnenheit, Muth, Ausdauer und Gewandt¬ heit entwickeln die Geißbuben, wenn eines ihrer Thiere ſich ver¬ ſtiegen oder „verjuckt“ hat, d. h. durch einen Sprung auf einen Felſenſatz gekommen iſt, von dem es weder vor noch zurück kann.

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/406>, abgerufen am 21.05.2024.