Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Sennenleben in den Alpen. Alpen groß gezogen wurde, im Frühjahr ein sehnendes Verlangennach den Bergen; es ist unstät im Weiden, wählerisch im Fressen und beruhiget sich nicht eher, bis der ihm innewohnende Natur¬ trieb nach dem Hochgebirge befriedigt wird. Corrodi sagt in seinen Alpenbriefen: "Die Alpenkühe haben Intelligenz. Wenn Du bergan gehst über die Weiden und die schönen Thiere erheben den Kopf so klug und fragend nach Dir, dann meinst Du, Du müssest ihnen den Paß vorzeigen! -- Das sind keine Kühe, wie sie im Land unten vor alle möglichen Fuhrwerke gespannt und abgekarrt werden, daß man an den Hüftknochen den Hut aufhängen könnte, -- das sind Honoratioren, bewußtvoll, sich fühlend, nicht Vieh mehr, son¬ dern Thier. Da ist Race, Schnitt, Charakter. Glaubst Du, ein Thalkühlein würde Empfindung zeigen, wenn sie die große Glocke getragen und man sie ihr wieder abnähme? Nein. Geh aber und frag', wie die Leitkuh traurig wird und nicht mehr fressen mag, wenn man sie ihrer Glocke beraubt" etc. Die Leitkuh ist das schönste Thier des Sennthums, und Sennenleben in den Alpen. Alpen groß gezogen wurde, im Frühjahr ein ſehnendes Verlangennach den Bergen; es iſt unſtät im Weiden, wähleriſch im Freſſen und beruhiget ſich nicht eher, bis der ihm innewohnende Natur¬ trieb nach dem Hochgebirge befriedigt wird. Corrodi ſagt in ſeinen Alpenbriefen: „Die Alpenkühe haben Intelligenz. Wenn Du bergan gehſt über die Weiden und die ſchönen Thiere erheben den Kopf ſo klug und fragend nach Dir, dann meinſt Du, Du müſſeſt ihnen den Paß vorzeigen! — Das ſind keine Kühe, wie ſie im Land unten vor alle möglichen Fuhrwerke geſpannt und abgekarrt werden, daß man an den Hüftknochen den Hut aufhängen könnte, — das ſind Honoratioren, bewußtvoll, ſich fühlend, nicht Vieh mehr, ſon¬ dern Thier. Da iſt Race, Schnitt, Charakter. Glaubſt Du, ein Thalkühlein würde Empfindung zeigen, wenn ſie die große Glocke getragen und man ſie ihr wieder abnähme? Nein. Geh aber und frag', wie die Leitkuh traurig wird und nicht mehr freſſen mag, wenn man ſie ihrer Glocke beraubt“ ꝛc. Die Leitkuh iſt das ſchönſte Thier des Sennthums, und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0388" n="350"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Sennenleben in den Alpen</hi>.<lb/></fw> Alpen groß gezogen wurde, im Frühjahr ein ſehnendes Verlangen<lb/> nach den Bergen; es iſt unſtät im Weiden, wähleriſch im Freſſen<lb/> und beruhiget ſich nicht eher, bis der ihm innewohnende Natur¬<lb/> trieb nach dem Hochgebirge befriedigt wird. Corrodi ſagt in ſeinen<lb/> Alpenbriefen: „Die Alpenkühe haben Intelligenz. Wenn Du bergan<lb/> gehſt über die Weiden und die ſchönen Thiere erheben den Kopf<lb/> ſo klug und fragend nach Dir, dann meinſt Du, Du müſſeſt ihnen<lb/> den Paß vorzeigen! — Das ſind keine Kühe, wie ſie im Land<lb/> unten vor alle möglichen Fuhrwerke geſpannt und abgekarrt werden,<lb/> daß man an den Hüftknochen den Hut aufhängen könnte, — das<lb/> ſind Honoratioren, bewußtvoll, ſich fühlend, nicht <hi rendition="#g">Vieh</hi> mehr, ſon¬<lb/> dern <hi rendition="#g">Thier</hi>. Da iſt Race, Schnitt, Charakter. Glaubſt Du, ein<lb/> Thalkühlein würde Empfindung zeigen, wenn ſie die große Glocke<lb/> getragen und man ſie ihr wieder abnähme? Nein. Geh aber und<lb/> frag', wie die Leitkuh traurig wird und nicht mehr freſſen mag,<lb/> wenn man ſie ihrer Glocke beraubt“ ꝛc.</p><lb/> <p>Die Leitkuh iſt das ſchönſte Thier des Sennthums, und<lb/> weil ſie von allen Kühen am Weiteſten, alſo gleichſam an der<lb/> Spitze derſelben geht, wird ſie die „Heer-Kuh“ genannt und trägt<lb/> eine Glocke. Begegnet es nun, daß ein ſolches Thier, das in<lb/> ſeinen früheren Verhältniſſen den Vorzug genoß, Führerin der Schaar<lb/> zu ſein, durch Kauf zu einer anderen Herde kommt und ſoll ſich<lb/> hier der Prinzipalität einer anderen Leitkuh unterordnen, ſo ent¬<lb/> ſteht nicht ſelten ein Kampf auf Tod und Leben. Die penſionirte<lb/> Leitkuh greift die, im Beſitz der Glocke ſich befindliche Vorgeſetzte<lb/> an, und zwar mit einer Entſchloſſenheit und mit einer Wuth, daß<lb/> die intervenirenden Hirten oft große Mühe haben, die Kämpferinnen<lb/> auseinander zu bringen. Weil ſie um den Vorrang ringt, wird<lb/> ſie deshalb in der Sennenſprache auch „d' Ringgeri“ genannt. —<lb/> Ganz ähnlich verhält es ſich mit den Zuchtſtieren der Herden.<lb/> Einſichtige und aufmerkſame Hirten verhüten es, daß zwei Sennten,<lb/> deren jedes einen Pfaar hat, auf unmittelbar aneinander ſtoßende<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [350/0388]
Sennenleben in den Alpen.
Alpen groß gezogen wurde, im Frühjahr ein ſehnendes Verlangen
nach den Bergen; es iſt unſtät im Weiden, wähleriſch im Freſſen
und beruhiget ſich nicht eher, bis der ihm innewohnende Natur¬
trieb nach dem Hochgebirge befriedigt wird. Corrodi ſagt in ſeinen
Alpenbriefen: „Die Alpenkühe haben Intelligenz. Wenn Du bergan
gehſt über die Weiden und die ſchönen Thiere erheben den Kopf
ſo klug und fragend nach Dir, dann meinſt Du, Du müſſeſt ihnen
den Paß vorzeigen! — Das ſind keine Kühe, wie ſie im Land
unten vor alle möglichen Fuhrwerke geſpannt und abgekarrt werden,
daß man an den Hüftknochen den Hut aufhängen könnte, — das
ſind Honoratioren, bewußtvoll, ſich fühlend, nicht Vieh mehr, ſon¬
dern Thier. Da iſt Race, Schnitt, Charakter. Glaubſt Du, ein
Thalkühlein würde Empfindung zeigen, wenn ſie die große Glocke
getragen und man ſie ihr wieder abnähme? Nein. Geh aber und
frag', wie die Leitkuh traurig wird und nicht mehr freſſen mag,
wenn man ſie ihrer Glocke beraubt“ ꝛc.
Die Leitkuh iſt das ſchönſte Thier des Sennthums, und
weil ſie von allen Kühen am Weiteſten, alſo gleichſam an der
Spitze derſelben geht, wird ſie die „Heer-Kuh“ genannt und trägt
eine Glocke. Begegnet es nun, daß ein ſolches Thier, das in
ſeinen früheren Verhältniſſen den Vorzug genoß, Führerin der Schaar
zu ſein, durch Kauf zu einer anderen Herde kommt und ſoll ſich
hier der Prinzipalität einer anderen Leitkuh unterordnen, ſo ent¬
ſteht nicht ſelten ein Kampf auf Tod und Leben. Die penſionirte
Leitkuh greift die, im Beſitz der Glocke ſich befindliche Vorgeſetzte
an, und zwar mit einer Entſchloſſenheit und mit einer Wuth, daß
die intervenirenden Hirten oft große Mühe haben, die Kämpferinnen
auseinander zu bringen. Weil ſie um den Vorrang ringt, wird
ſie deshalb in der Sennenſprache auch „d' Ringgeri“ genannt. —
Ganz ähnlich verhält es ſich mit den Zuchtſtieren der Herden.
Einſichtige und aufmerkſame Hirten verhüten es, daß zwei Sennten,
deren jedes einen Pfaar hat, auf unmittelbar aneinander ſtoßende
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