Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Hospitien.
auch die Mittel wachsen. Hier könnten reiche Leute, wenn sie an
der Scheidegränze des irdischen Lebens angekommen, den letzten
Willen über ihre Güter niederlegen, sich ein hundertfach größeres
Verdienst um die leidende Menschheit erwerben und innigerer
Segenswünsche gewärtig sein als bei vielen anderen Dotationen
für Fonds, die ohnedies schon bedeutende Güter gehäuft haben.
Denn: mit einem Labetrunke, mit einem Bissen Brod, dem in
grausiger Felsen-Einöde schmachtenden Armen, -- oder gar dem
durch die entfesselte Wuth, der Elemente in seinem Leben Bedroh¬
ten, mittelbar rettend sich nahen zu können, ist sicherlich ein schönes,
erhebendes Bewußtsein. Möchte die hier beiläufig eingeworfene
Bemerkung irgendwo Widerhall im Herzen humaner Menschen
finden!

Die Regierung des Kantons Tessin, in deren Gebiet das
Gotthardshospiz liegt, liefert je zeitweilig aus ihrem Zeughause,
für den Militairdienst unbrauchbar gewordene Kleidungsstücke zur
Vertheilung an die Armen. Die Art und Weise, wie hier, so wie
in den von Mönchen besorgten Hospitien, die bei großer Kälte
und wildstürmischem Wetter fast besinnungslos ankommenden, halb
erfrorenen Reisenden behandelt werden, ist höchst zweckmäßig. An¬
fangs werden sie in einem kalten Zimmer umhergeführt und er¬
halten entweder erwärmten Rothwein oder eine Art schwachen Grog.
Dann werden die dem Frost am meisten ausgesetzt gewesenen Kör¬
pertheile in Schneewasser getaucht, mit Schnee gerieben und so,
wie die Cirkulation des Blutes lebendiger eintritt, legt man sie in
ein erwärmtes Zimmer, deckt sie tüchtig mit Wolldecken zu und
reicht ihnen die nöthigen Speisen. Hierauf folgt in der Regel
ein lethargischer Schlaf, der mitunter bis zu 20 Stunden andauert.
Nach dem Erwachen sind die Halb-Patienten gewöhnlich so restau¬
rirt, daß sie nach eingenommener Mahlzeit ihre Reise weiter fort¬
setzen können. Jene unendlich wohligen Gefühle und die selige
Behaglichkeit, welche den Bergwanderer umfängt, der bei wildem

21*

Die Hospitien.
auch die Mittel wachſen. Hier könnten reiche Leute, wenn ſie an
der Scheidegränze des irdiſchen Lebens angekommen, den letzten
Willen über ihre Güter niederlegen, ſich ein hundertfach größeres
Verdienſt um die leidende Menſchheit erwerben und innigerer
Segenswünſche gewärtig ſein als bei vielen anderen Dotationen
für Fonds, die ohnedies ſchon bedeutende Güter gehäuft haben.
Denn: mit einem Labetrunke, mit einem Biſſen Brod, dem in
grauſiger Felſen-Einöde ſchmachtenden Armen, — oder gar dem
durch die entfeſſelte Wuth, der Elemente in ſeinem Leben Bedroh¬
ten, mittelbar rettend ſich nahen zu können, iſt ſicherlich ein ſchönes,
erhebendes Bewußtſein. Möchte die hier beiläufig eingeworfene
Bemerkung irgendwo Widerhall im Herzen humaner Menſchen
finden!

Die Regierung des Kantons Teſſin, in deren Gebiet das
Gotthardshoſpiz liegt, liefert je zeitweilig aus ihrem Zeughauſe,
für den Militairdienſt unbrauchbar gewordene Kleidungsſtücke zur
Vertheilung an die Armen. Die Art und Weiſe, wie hier, ſo wie
in den von Mönchen beſorgten Hospitien, die bei großer Kälte
und wildſtürmiſchem Wetter faſt beſinnungslos ankommenden, halb
erfrorenen Reiſenden behandelt werden, iſt höchſt zweckmäßig. An¬
fangs werden ſie in einem kalten Zimmer umhergeführt und er¬
halten entweder erwärmten Rothwein oder eine Art ſchwachen Grog.
Dann werden die dem Froſt am meiſten ausgeſetzt geweſenen Kör¬
pertheile in Schneewaſſer getaucht, mit Schnee gerieben und ſo,
wie die Cirkulation des Blutes lebendiger eintritt, legt man ſie in
ein erwärmtes Zimmer, deckt ſie tüchtig mit Wolldecken zu und
reicht ihnen die nöthigen Speiſen. Hierauf folgt in der Regel
ein lethargiſcher Schlaf, der mitunter bis zu 20 Stunden andauert.
Nach dem Erwachen ſind die Halb-Patienten gewöhnlich ſo reſtau¬
rirt, daß ſie nach eingenommener Mahlzeit ihre Reiſe weiter fort¬
ſetzen können. Jene unendlich wohligen Gefühle und die ſelige
Behaglichkeit, welche den Bergwanderer umfängt, der bei wildem

21*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0359" n="323"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Die Hospitien</hi>.<lb/></fw> auch die Mittel wach&#x017F;en. Hier könnten reiche Leute, wenn &#x017F;ie an<lb/>
der Scheidegränze des irdi&#x017F;chen Lebens angekommen, den letzten<lb/>
Willen über ihre Güter niederlegen, &#x017F;ich ein hundertfach größeres<lb/>
Verdien&#x017F;t um die leidende Men&#x017F;chheit erwerben und innigerer<lb/>
Segenswün&#x017F;che gewärtig &#x017F;ein als bei vielen anderen Dotationen<lb/>
für Fonds, die ohnedies &#x017F;chon bedeutende Güter gehäuft haben.<lb/>
Denn: mit einem Labetrunke, mit einem Bi&#x017F;&#x017F;en Brod, dem in<lb/>
grau&#x017F;iger Fel&#x017F;en-Einöde &#x017F;chmachtenden Armen, &#x2014; oder gar dem<lb/>
durch die entfe&#x017F;&#x017F;elte Wuth, der Elemente in &#x017F;einem Leben Bedroh¬<lb/>
ten, mittelbar rettend &#x017F;ich nahen zu können, i&#x017F;t &#x017F;icherlich ein &#x017F;chönes,<lb/>
erhebendes Bewußt&#x017F;ein. Möchte die hier beiläufig eingeworfene<lb/>
Bemerkung irgendwo Widerhall im Herzen humaner Men&#x017F;chen<lb/>
finden!</p><lb/>
        <p>Die Regierung des Kantons Te&#x017F;&#x017F;in, in deren Gebiet das<lb/>
Gotthardsho&#x017F;piz liegt, liefert je zeitweilig aus ihrem Zeughau&#x017F;e,<lb/>
für den Militairdien&#x017F;t unbrauchbar gewordene Kleidungs&#x017F;tücke zur<lb/>
Vertheilung an die Armen. Die Art und Wei&#x017F;e, wie hier, &#x017F;o wie<lb/>
in den von Mönchen be&#x017F;orgten Hospitien, die bei großer Kälte<lb/>
und wild&#x017F;türmi&#x017F;chem Wetter fa&#x017F;t be&#x017F;innungslos ankommenden, halb<lb/>
erfrorenen Rei&#x017F;enden behandelt werden, i&#x017F;t höch&#x017F;t zweckmäßig. An¬<lb/>
fangs werden &#x017F;ie in einem kalten Zimmer umhergeführt und er¬<lb/>
halten entweder erwärmten Rothwein oder eine Art &#x017F;chwachen Grog.<lb/>
Dann werden die dem Fro&#x017F;t am mei&#x017F;ten ausge&#x017F;etzt gewe&#x017F;enen Kör¬<lb/>
pertheile in Schneewa&#x017F;&#x017F;er getaucht, mit Schnee gerieben und &#x017F;o,<lb/>
wie die Cirkulation des Blutes lebendiger eintritt, legt man &#x017F;ie in<lb/>
ein erwärmtes Zimmer, deckt &#x017F;ie tüchtig mit Wolldecken zu und<lb/>
reicht ihnen die nöthigen Spei&#x017F;en. Hierauf folgt in der Regel<lb/>
ein lethargi&#x017F;cher Schlaf, der mitunter bis zu 20 Stunden andauert.<lb/>
Nach dem Erwachen &#x017F;ind die Halb-Patienten gewöhnlich &#x017F;o re&#x017F;tau¬<lb/>
rirt, daß &#x017F;ie nach eingenommener Mahlzeit ihre Rei&#x017F;e weiter fort¬<lb/>
&#x017F;etzen können. Jene unendlich wohligen Gefühle und die &#x017F;elige<lb/>
Behaglichkeit, welche den Bergwanderer umfängt, der bei wildem<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">21*<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[323/0359] Die Hospitien. auch die Mittel wachſen. Hier könnten reiche Leute, wenn ſie an der Scheidegränze des irdiſchen Lebens angekommen, den letzten Willen über ihre Güter niederlegen, ſich ein hundertfach größeres Verdienſt um die leidende Menſchheit erwerben und innigerer Segenswünſche gewärtig ſein als bei vielen anderen Dotationen für Fonds, die ohnedies ſchon bedeutende Güter gehäuft haben. Denn: mit einem Labetrunke, mit einem Biſſen Brod, dem in grauſiger Felſen-Einöde ſchmachtenden Armen, — oder gar dem durch die entfeſſelte Wuth, der Elemente in ſeinem Leben Bedroh¬ ten, mittelbar rettend ſich nahen zu können, iſt ſicherlich ein ſchönes, erhebendes Bewußtſein. Möchte die hier beiläufig eingeworfene Bemerkung irgendwo Widerhall im Herzen humaner Menſchen finden! Die Regierung des Kantons Teſſin, in deren Gebiet das Gotthardshoſpiz liegt, liefert je zeitweilig aus ihrem Zeughauſe, für den Militairdienſt unbrauchbar gewordene Kleidungsſtücke zur Vertheilung an die Armen. Die Art und Weiſe, wie hier, ſo wie in den von Mönchen beſorgten Hospitien, die bei großer Kälte und wildſtürmiſchem Wetter faſt beſinnungslos ankommenden, halb erfrorenen Reiſenden behandelt werden, iſt höchſt zweckmäßig. An¬ fangs werden ſie in einem kalten Zimmer umhergeführt und er¬ halten entweder erwärmten Rothwein oder eine Art ſchwachen Grog. Dann werden die dem Froſt am meiſten ausgeſetzt geweſenen Kör¬ pertheile in Schneewaſſer getaucht, mit Schnee gerieben und ſo, wie die Cirkulation des Blutes lebendiger eintritt, legt man ſie in ein erwärmtes Zimmer, deckt ſie tüchtig mit Wolldecken zu und reicht ihnen die nöthigen Speiſen. Hierauf folgt in der Regel ein lethargiſcher Schlaf, der mitunter bis zu 20 Stunden andauert. Nach dem Erwachen ſind die Halb-Patienten gewöhnlich ſo reſtau¬ rirt, daß ſie nach eingenommener Mahlzeit ihre Reiſe weiter fort¬ ſetzen können. Jene unendlich wohligen Gefühle und die ſelige Behaglichkeit, welche den Bergwanderer umfängt, der bei wildem 21*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/359
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/359>, abgerufen am 19.05.2024.