Lebens-Aeußerung unterbrochen wird, ein beinahe schauerlich-charak¬ teristisches Merkmal solcher äußerster Höhepunkte, die in ewiger Sabbathruhe daliegen; nur wenn der Sturm die Gipfel umbraust, dann erbebt die Luft seufzend unter den Windstößen, und langge¬ zogene heulende Disharmonieen umtanzen im wilden Reigen die grause Einsamkeit.
In diesen Höhen hat das organische Leben als normale Er¬ scheinung aufgehört. Selten ists, im Schnee Spuren von Gemsen¬ tritten zu finden, und ebenso ungewöhnlich, einen, der noch in der unteren Schneeregion nistenden Vögel zu erblicken; nur bisweilen kreist ein Steinadler oder Lämmergeier um eine der benachbarten Spitzen und unterbricht die hehre Stille mit seinem gedehnten, schrillen "Pfii" und "Hiä". Wohl aber begegnet man nicht selten den Leichen kleinerer Thiere, namentlich solchen von Insekten, die ursprünglich dem Tieflande angehörend, durch irgend eine empor¬ wirbelnde Windsäule hier heraufgetragen wurden und auf dem Schnee rasch ihren Tod fanden. Herr v. Dürler sah auf dem vereisten Kulm des Tödi während seines Mittagsmahles einen Schmetterling (Papilio brassicae, Kohlweißling) in mattem Fluge vorüberflattern, den ebenfalls der Sturm in diese Todesfelder ver¬ schlagen hatte. Auch dürre Laubblätter von Buchen und Ahornen wurden schon wiederholt auf den Firnen von 11 und 12 Tausend Fuß angetroffen, -- immer aber, vermöge ihrer größeren Wärme- Kapazität, einige Linien tief in scharfen Umrissen in den Schnee eingesunken. Nur das Pflanzenreich hat hie und da noch einige verlorene Gränzposten; so zeigen sich an felsigen Stellen bei 10,000 Fuß noch die Aretia helvetica und glacialis, letztere mit ihren feu¬ rigrothen Vergißmeinnicht-Sternlein auf graugrünem Laubkissen, die erstorbene Einöde ein wenig belebend; -- ferner Poa alpina var. frigida, und am Schreckhorn sogar bei 11,000 Fuß noch der behaarte Gletscher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis L.). Noch einige Moosarten wagen sich hierherauf, indessen äußerst spärlich, und als
Alpenſpitzen.
Lebens-Aeußerung unterbrochen wird, ein beinahe ſchauerlich-charak¬ teriſtiſches Merkmal ſolcher äußerſter Höhepunkte, die in ewiger Sabbathruhe daliegen; nur wenn der Sturm die Gipfel umbrauſt, dann erbebt die Luft ſeufzend unter den Windſtößen, und langge¬ zogene heulende Disharmonieen umtanzen im wilden Reigen die grauſe Einſamkeit.
In dieſen Höhen hat das organiſche Leben als normale Er¬ ſcheinung aufgehört. Selten iſts, im Schnee Spuren von Gemſen¬ tritten zu finden, und ebenſo ungewöhnlich, einen, der noch in der unteren Schneeregion niſtenden Vögel zu erblicken; nur bisweilen kreiſt ein Steinadler oder Lämmergeier um eine der benachbarten Spitzen und unterbricht die hehre Stille mit ſeinem gedehnten, ſchrillen „Pfii“ und „Hiä“. Wohl aber begegnet man nicht ſelten den Leichen kleinerer Thiere, namentlich ſolchen von Inſekten, die urſprünglich dem Tieflande angehörend, durch irgend eine empor¬ wirbelnde Windſäule hier heraufgetragen wurden und auf dem Schnee raſch ihren Tod fanden. Herr v. Dürler ſah auf dem vereisten Kulm des Tödi während ſeines Mittagsmahles einen Schmetterling (Papilio brassicae, Kohlweißling) in mattem Fluge vorüberflattern, den ebenfalls der Sturm in dieſe Todesfelder ver¬ ſchlagen hatte. Auch dürre Laubblätter von Buchen und Ahornen wurden ſchon wiederholt auf den Firnen von 11 und 12 Tauſend Fuß angetroffen, — immer aber, vermöge ihrer größeren Wärme- Kapazität, einige Linien tief in ſcharfen Umriſſen in den Schnee eingeſunken. Nur das Pflanzenreich hat hie und da noch einige verlorene Gränzpoſten; ſo zeigen ſich an felſigen Stellen bei 10,000 Fuß noch die Aretia helvetica und glacialis, letztere mit ihren feu¬ rigrothen Vergißmeinnicht-Sternlein auf graugrünem Laubkiſſen, die erſtorbene Einöde ein wenig belebend; — ferner Poa alpina var. frigida, und am Schreckhorn ſogar bei 11,000 Fuß noch der behaarte Gletſcher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis L.). Noch einige Moosarten wagen ſich hierherauf, indeſſen äußerſt ſpärlich, und als
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Alpenſpitzen.
Lebens-Aeußerung unterbrochen wird, ein beinahe ſchauerlich-charak¬
teriſtiſches Merkmal ſolcher äußerſter Höhepunkte, die in ewiger
Sabbathruhe daliegen; nur wenn der Sturm die Gipfel umbrauſt,
dann erbebt die Luft ſeufzend unter den Windſtößen, und langge¬
zogene heulende Disharmonieen umtanzen im wilden Reigen die
grauſe Einſamkeit.
In dieſen Höhen hat das organiſche Leben als normale Er¬
ſcheinung aufgehört. Selten iſts, im Schnee Spuren von Gemſen¬
tritten zu finden, und ebenſo ungewöhnlich, einen, der noch in der
unteren Schneeregion niſtenden Vögel zu erblicken; nur bisweilen
kreiſt ein Steinadler oder Lämmergeier um eine der benachbarten
Spitzen und unterbricht die hehre Stille mit ſeinem gedehnten,
ſchrillen „Pfii“ und „Hiä“. Wohl aber begegnet man nicht ſelten
den Leichen kleinerer Thiere, namentlich ſolchen von Inſekten, die
urſprünglich dem Tieflande angehörend, durch irgend eine empor¬
wirbelnde Windſäule hier heraufgetragen wurden und auf dem
Schnee raſch ihren Tod fanden. Herr v. Dürler ſah auf dem
vereisten Kulm des Tödi während ſeines Mittagsmahles einen
Schmetterling (Papilio brassicae, Kohlweißling) in mattem Fluge
vorüberflattern, den ebenfalls der Sturm in dieſe Todesfelder ver¬
ſchlagen hatte. Auch dürre Laubblätter von Buchen und Ahornen
wurden ſchon wiederholt auf den Firnen von 11 und 12 Tauſend
Fuß angetroffen, — immer aber, vermöge ihrer größeren Wärme-
Kapazität, einige Linien tief in ſcharfen Umriſſen in den Schnee
eingeſunken. Nur das Pflanzenreich hat hie und da noch einige
verlorene Gränzpoſten; ſo zeigen ſich an felſigen Stellen bei 10,000
Fuß noch die Aretia helvetica und glacialis, letztere mit ihren feu¬
rigrothen Vergißmeinnicht-Sternlein auf graugrünem Laubkiſſen, die
erſtorbene Einöde ein wenig belebend; — ferner Poa alpina var.
frigida, und am Schreckhorn ſogar bei 11,000 Fuß noch der behaarte
Gletſcher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis L.). Noch einige
Moosarten wagen ſich hierherauf, indeſſen äußerſt ſpärlich, und als
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/316>, abgerufen am 24.11.2024.
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