Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Alpenspitzen. fügiger Umstand kann solche, in die Luft hinausragende, gleichDächern die Felsen übertraufende Firngerüste lösen und zum Tief¬ sturz bringen. Herr Weilenmann hat deren am Gufferhorn (Adula- Gruppe) beobachtet, die mehr als 30 Fuß frei hinausstehend, Muster kühner Schneearchitektur genannt zu werden verdienen. Man hat sich also wohl zu hüten, auf solche überhangende Weheten zu weit hinaus zu gehen. -- Ferner bereitet das s. g. "faule Gestein," d. h. die durch Erosion und durch die Thätigkeit der Atmosphärilien ab¬ gelösten, bröckeligen Felsenfragmente, dem Berggänger große Ver¬ legenheiten, sei es, daß der Fuß keinen sicheren Stand auf dem¬ selben hat und fortwährend sich in der Gefahr befindet abzugleiten, sei es durch Ablösung oberhalb, also durch entstehenden Stein¬ hagel. Auch dünne Felsen-Nadeln, die wie Spitzthürmchen gothi¬ scher Kathedralen sich präsentiren und Angesichts von Abgründen umklettert werden müssen, gehören nicht selten zu den kleinen Mali¬ cen der letzten Marsch-Stunden. Der letzte eigentlichste Kernpunkt, die äußerste Kulmination ist Die letzte Passage zum Gipfel der Bernina-Spitze (12475 Alpenſpitzen. fügiger Umſtand kann ſolche, in die Luft hinausragende, gleichDächern die Felſen übertraufende Firngerüſte löſen und zum Tief¬ ſturz bringen. Herr Weilenmann hat deren am Gufferhorn (Adula- Gruppe) beobachtet, die mehr als 30 Fuß frei hinausſtehend, Muſter kühner Schneearchitektur genannt zu werden verdienen. Man hat ſich alſo wohl zu hüten, auf ſolche überhangende Weheten zu weit hinaus zu gehen. — Ferner bereitet das ſ. g. „faule Geſtein,“ d. h. die durch Eroſion und durch die Thätigkeit der Atmoſphärilien ab¬ gelöſten, bröckeligen Felſenfragmente, dem Berggänger große Ver¬ legenheiten, ſei es, daß der Fuß keinen ſicheren Stand auf dem¬ ſelben hat und fortwährend ſich in der Gefahr befindet abzugleiten, ſei es durch Ablöſung oberhalb, alſo durch entſtehenden Stein¬ hagel. Auch dünne Felſen-Nadeln, die wie Spitzthürmchen gothi¬ ſcher Kathedralen ſich präſentiren und Angeſichts von Abgründen umklettert werden müſſen, gehören nicht ſelten zu den kleinen Mali¬ cen der letzten Marſch-Stunden. Der letzte eigentlichſte Kernpunkt, die äußerſte Kulmination iſt Die letzte Paſſage zum Gipfel der Bernina-Spitze (12475 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0304" n="270"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Alpenſpitzen</hi>.<lb/></fw>fügiger Umſtand kann ſolche, in die Luft hinausragende, gleich<lb/> Dächern die Felſen übertraufende Firngerüſte löſen und zum Tief¬<lb/> ſturz bringen. Herr Weilenmann hat deren am Gufferhorn (Adula-<lb/> Gruppe) beobachtet, die mehr als 30 Fuß frei hinausſtehend, Muſter<lb/> kühner Schneearchitektur genannt zu werden verdienen. Man hat ſich<lb/> alſo wohl zu hüten, auf ſolche überhangende Weheten zu weit hinaus<lb/> zu gehen. — Ferner bereitet das ſ. g. „<hi rendition="#g">faule Geſtein</hi>,“ d. h.<lb/> die durch Eroſion und durch die Thätigkeit der Atmoſphärilien ab¬<lb/> gelöſten, bröckeligen Felſenfragmente, dem Berggänger große Ver¬<lb/> legenheiten, ſei es, daß der Fuß keinen ſicheren Stand auf dem¬<lb/> ſelben hat und fortwährend ſich in der Gefahr befindet abzugleiten,<lb/> ſei es durch Ablöſung oberhalb, alſo durch entſtehenden Stein¬<lb/> hagel. Auch dünne Felſen-Nadeln, die wie Spitzthürmchen gothi¬<lb/> ſcher Kathedralen ſich präſentiren und Angeſichts von Abgründen<lb/> umklettert werden müſſen, gehören nicht ſelten zu den kleinen Mali¬<lb/> cen der letzten Marſch-Stunden.</p><lb/> <p>Der letzte eigentlichſte Kernpunkt, die äußerſte Kulmination iſt<lb/> bei ſehr vielen Alpenſpitzen auch noch die härteſte der zu knacken¬<lb/> den Nüſſe. Manche mit der ſorgfältigſten Vorbereitung ausge¬<lb/> rüſtete Expedition ſcheiterte ganz oder theilweiſe noch dicht unter<lb/> der dominirenden Scheitelzinke, weil man zu ſpät erkannte, den<lb/> Streifzug gegen das Bollwerk von der unrechten, unzugänglichen<lb/> Seite unternommen zu haben (wie ſolches bei allen Monte Roſa-<lb/> Beſteigungen vor dem Jahre 1855 der Fall war) — oder weil<lb/> den Gipfelſtürmern jene wahrhaft unheimliche Kaltblütigkeit und<lb/> grauenhafte Reſignation neben den muskelfriſchen Kräften fehlten,<lb/> welche nöthig ſind, ſolche Wagſtücke auf Leben und Tod zu be¬<lb/> ſtehen. Einige Beiſpiele werden genügende Erläuterung geben.</p><lb/> <p>Die letzte Paſſage zum Gipfel der <hi rendition="#g">Bernina-Spitze</hi> (12475<lb/> par. Fuß, Ober-Engadin) beſteht aus einem ſcharfen Gletſcher-<lb/> Grat, der ſteiler als der Firſt des ſteilſten Kirchendaches, ja bei¬<lb/> nahe ſenkrecht, wohl zweitauſend Fuß, einerſeits gegen das <hi rendition="#aq">Val</hi><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [270/0304]
Alpenſpitzen.
fügiger Umſtand kann ſolche, in die Luft hinausragende, gleich
Dächern die Felſen übertraufende Firngerüſte löſen und zum Tief¬
ſturz bringen. Herr Weilenmann hat deren am Gufferhorn (Adula-
Gruppe) beobachtet, die mehr als 30 Fuß frei hinausſtehend, Muſter
kühner Schneearchitektur genannt zu werden verdienen. Man hat ſich
alſo wohl zu hüten, auf ſolche überhangende Weheten zu weit hinaus
zu gehen. — Ferner bereitet das ſ. g. „faule Geſtein,“ d. h.
die durch Eroſion und durch die Thätigkeit der Atmoſphärilien ab¬
gelöſten, bröckeligen Felſenfragmente, dem Berggänger große Ver¬
legenheiten, ſei es, daß der Fuß keinen ſicheren Stand auf dem¬
ſelben hat und fortwährend ſich in der Gefahr befindet abzugleiten,
ſei es durch Ablöſung oberhalb, alſo durch entſtehenden Stein¬
hagel. Auch dünne Felſen-Nadeln, die wie Spitzthürmchen gothi¬
ſcher Kathedralen ſich präſentiren und Angeſichts von Abgründen
umklettert werden müſſen, gehören nicht ſelten zu den kleinen Mali¬
cen der letzten Marſch-Stunden.
Der letzte eigentlichſte Kernpunkt, die äußerſte Kulmination iſt
bei ſehr vielen Alpenſpitzen auch noch die härteſte der zu knacken¬
den Nüſſe. Manche mit der ſorgfältigſten Vorbereitung ausge¬
rüſtete Expedition ſcheiterte ganz oder theilweiſe noch dicht unter
der dominirenden Scheitelzinke, weil man zu ſpät erkannte, den
Streifzug gegen das Bollwerk von der unrechten, unzugänglichen
Seite unternommen zu haben (wie ſolches bei allen Monte Roſa-
Beſteigungen vor dem Jahre 1855 der Fall war) — oder weil
den Gipfelſtürmern jene wahrhaft unheimliche Kaltblütigkeit und
grauenhafte Reſignation neben den muskelfriſchen Kräften fehlten,
welche nöthig ſind, ſolche Wagſtücke auf Leben und Tod zu be¬
ſtehen. Einige Beiſpiele werden genügende Erläuterung geben.
Die letzte Paſſage zum Gipfel der Bernina-Spitze (12475
par. Fuß, Ober-Engadin) beſteht aus einem ſcharfen Gletſcher-
Grat, der ſteiler als der Firſt des ſteilſten Kirchendaches, ja bei¬
nahe ſenkrecht, wohl zweitauſend Fuß, einerſeits gegen das Val
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