Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Alpenspitzen.
das spröde Material zu hauen. Es muß ein gutes, erprobtes In¬
strument sein, welches ein gewandter Arm regiert; einmal der Hand,
der leicht erstarrenden, entfallen, macht der Verlust desselben einen
quittirenden Strich durch die Rechnung und aus dem zu erwarten¬
den großen Loos plötzlich eine Niete. Das Empordringen einer
Gesellschaft unter solchen Umständen, wo Schritt für Schritt erst
geschaffen, geebnet, gesichert werden muß, ist dann höchst langsam,
langweilig und erkältend. Bei Studers erster Ersteigung des
Großen Rinderhornes (10670 Fuß, Wallis-Berner Gränze) mu߬
ten gegen 400 solcher Stufen in den übereisten Jähhang gehauen
werden, ein Zeitverlust von mehreren Stunden. Bergsteiger-Regel
ists, eine solche Kunsttreppe, so viel immer möglich, geradeansteigend
zu beschreiten, so daß das Gesicht dem Eis zugekehrt bleibt; der Fuß
tritt mit der Spitze weit sicherer als mit der Seitenkante auf.

Höchst gefährlich sind solche vereiste, steile Hänge, wenn frisch
gefallener Schnee die glatten Eisspiegel maskirt. Es fehlt nicht
an haarsträubenden Schreckensgeschichten zur Illustrirung des Ka¬
pitels von den Schneerutschen, die urplötzlich mit der, auf der obe¬
ren, neugefallenen Schicht wandernden Gesellschaft über der darun¬
ter verborgenen Eisbahn sich in Bewegung setzten. Hugi hätte
bei seinem zweiten Versuch der Finsteraarhorn-Ersteigung beinahe
durch solch einen Schneeschlipf das Leben eingebüßt, wenn der
entschlossene Leuthold ihn nicht noch im letzten Augenblicke mit
nervigem Arm ergriffen und gerettet hätte. Das furchtbarste Er¬
eigniß dieser Art ist jenes, welches die völlige Besteigung des Mont¬
blanc durch den russischen Naturforscher, Hofrath Hamel vereitelte.
Derselbe war mit den beiden englischen Gelehrten der Oxforder
Universität, Herren Dornford und Henderson, unter Begleitung der
kundigsten Chamounyführer (J. M. Coutet, Math. Balmat, Favret,
Jules Devouasson u. A.) und vielen Trägern für Komfortabilitäten,
Lebensmittel, mathematische und physikalische Instrumente, am
16. August 1820 von Prieure ausgezogen, hatte am Grand Mou¬

Alpenſpitzen.
das ſpröde Material zu hauen. Es muß ein gutes, erprobtes In¬
ſtrument ſein, welches ein gewandter Arm regiert; einmal der Hand,
der leicht erſtarrenden, entfallen, macht der Verluſt deſſelben einen
quittirenden Strich durch die Rechnung und aus dem zu erwarten¬
den großen Loos plötzlich eine Niete. Das Empordringen einer
Geſellſchaft unter ſolchen Umſtänden, wo Schritt für Schritt erſt
geſchaffen, geebnet, geſichert werden muß, iſt dann höchſt langſam,
langweilig und erkältend. Bei Studers erſter Erſteigung des
Großen Rinderhornes (10670 Fuß, Wallis-Berner Gränze) mu߬
ten gegen 400 ſolcher Stufen in den übereisten Jähhang gehauen
werden, ein Zeitverluſt von mehreren Stunden. Bergſteiger-Regel
iſts, eine ſolche Kunſttreppe, ſo viel immer möglich, geradeanſteigend
zu beſchreiten, ſo daß das Geſicht dem Eis zugekehrt bleibt; der Fuß
tritt mit der Spitze weit ſicherer als mit der Seitenkante auf.

Höchſt gefährlich ſind ſolche vereiste, ſteile Hänge, wenn friſch
gefallener Schnee die glatten Eisſpiegel maskirt. Es fehlt nicht
an haarſträubenden Schreckensgeſchichten zur Illuſtrirung des Ka¬
pitels von den Schneerutſchen, die urplötzlich mit der, auf der obe¬
ren, neugefallenen Schicht wandernden Geſellſchaft über der darun¬
ter verborgenen Eisbahn ſich in Bewegung ſetzten. Hugi hätte
bei ſeinem zweiten Verſuch der Finſteraarhorn-Erſteigung beinahe
durch ſolch einen Schneeſchlipf das Leben eingebüßt, wenn der
entſchloſſene Leuthold ihn nicht noch im letzten Augenblicke mit
nervigem Arm ergriffen und gerettet hätte. Das furchtbarſte Er¬
eigniß dieſer Art iſt jenes, welches die völlige Beſteigung des Mont¬
blanc durch den ruſſiſchen Naturforſcher, Hofrath Hamel vereitelte.
Derſelbe war mit den beiden engliſchen Gelehrten der Oxforder
Univerſität, Herren Dornford und Henderſon, unter Begleitung der
kundigſten Chamounyführer (J. M. Coutet, Math. Balmat, Favret,
Jules Devouaſſon u. A.) und vielen Trägern für Komfortabilitäten,
Lebensmittel, mathematiſche und phyſikaliſche Inſtrumente, am
16. Auguſt 1820 von Prieuré ausgezogen, hatte am Grand Mou¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0299" n="265"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Alpen&#x017F;pitzen</hi>.<lb/></fw>das &#x017F;pröde Material zu hauen. Es muß ein gutes, erprobtes In¬<lb/>
&#x017F;trument &#x017F;ein, welches ein gewandter Arm regiert; einmal der Hand,<lb/>
der leicht er&#x017F;tarrenden, entfallen, macht der Verlu&#x017F;t de&#x017F;&#x017F;elben einen<lb/>
quittirenden Strich durch die Rechnung und aus dem zu erwarten¬<lb/>
den großen Loos plötzlich eine Niete. Das Empordringen einer<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft unter &#x017F;olchen Um&#x017F;tänden, wo Schritt für Schritt er&#x017F;t<lb/>
ge&#x017F;chaffen, geebnet, ge&#x017F;ichert werden muß, i&#x017F;t dann höch&#x017F;t lang&#x017F;am,<lb/>
langweilig und erkältend. Bei Studers er&#x017F;ter Er&#x017F;teigung des<lb/>
Großen Rinderhornes (10670 Fuß, Wallis-Berner Gränze) mu߬<lb/>
ten gegen 400 &#x017F;olcher Stufen in den übereisten Jähhang gehauen<lb/>
werden, ein Zeitverlu&#x017F;t von mehreren Stunden. Berg&#x017F;teiger-Regel<lb/>
i&#x017F;ts, eine &#x017F;olche Kun&#x017F;ttreppe, &#x017F;o viel immer möglich, geradean&#x017F;teigend<lb/>
zu be&#x017F;chreiten, &#x017F;o daß das Ge&#x017F;icht dem Eis zugekehrt bleibt; der Fuß<lb/>
tritt mit der Spitze weit &#x017F;icherer als mit der Seitenkante auf.</p><lb/>
        <p>Höch&#x017F;t gefährlich &#x017F;ind &#x017F;olche vereiste, &#x017F;teile Hänge, wenn fri&#x017F;ch<lb/>
gefallener Schnee die glatten Eis&#x017F;piegel maskirt. Es fehlt nicht<lb/>
an haar&#x017F;träubenden Schreckensge&#x017F;chichten zur Illu&#x017F;trirung des Ka¬<lb/>
pitels von den Schneerut&#x017F;chen, die urplötzlich mit der, auf der obe¬<lb/>
ren, neugefallenen Schicht wandernden Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft über der darun¬<lb/>
ter verborgenen Eisbahn &#x017F;ich in Bewegung &#x017F;etzten. Hugi hätte<lb/>
bei &#x017F;einem zweiten Ver&#x017F;uch der Fin&#x017F;teraarhorn-Er&#x017F;teigung beinahe<lb/>
durch &#x017F;olch einen Schnee&#x017F;chlipf das Leben eingebüßt, wenn der<lb/>
ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Leuthold ihn nicht noch im letzten Augenblicke mit<lb/>
nervigem Arm ergriffen und gerettet hätte. Das furchtbar&#x017F;te Er¬<lb/>
eigniß die&#x017F;er Art i&#x017F;t jenes, welches die völlige Be&#x017F;teigung des Mont¬<lb/>
blanc durch den ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Naturfor&#x017F;cher, Hofrath Hamel vereitelte.<lb/>
Der&#x017F;elbe war mit den beiden engli&#x017F;chen Gelehrten der Oxforder<lb/>
Univer&#x017F;ität, Herren Dornford und Hender&#x017F;on, unter Begleitung der<lb/>
kundig&#x017F;ten Chamounyführer (J. M. Coutet, Math. Balmat, Favret,<lb/>
Jules Devoua&#x017F;&#x017F;on u. A.) und vielen Trägern für Komfortabilitäten,<lb/>
Lebensmittel, mathemati&#x017F;che und phy&#x017F;ikali&#x017F;che In&#x017F;trumente, am<lb/>
16. Augu&#x017F;t 1820 von <hi rendition="#aq">Prieuré</hi> ausgezogen, hatte am <hi rendition="#aq">Grand Mou¬</hi><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[265/0299] Alpenſpitzen. das ſpröde Material zu hauen. Es muß ein gutes, erprobtes In¬ ſtrument ſein, welches ein gewandter Arm regiert; einmal der Hand, der leicht erſtarrenden, entfallen, macht der Verluſt deſſelben einen quittirenden Strich durch die Rechnung und aus dem zu erwarten¬ den großen Loos plötzlich eine Niete. Das Empordringen einer Geſellſchaft unter ſolchen Umſtänden, wo Schritt für Schritt erſt geſchaffen, geebnet, geſichert werden muß, iſt dann höchſt langſam, langweilig und erkältend. Bei Studers erſter Erſteigung des Großen Rinderhornes (10670 Fuß, Wallis-Berner Gränze) mu߬ ten gegen 400 ſolcher Stufen in den übereisten Jähhang gehauen werden, ein Zeitverluſt von mehreren Stunden. Bergſteiger-Regel iſts, eine ſolche Kunſttreppe, ſo viel immer möglich, geradeanſteigend zu beſchreiten, ſo daß das Geſicht dem Eis zugekehrt bleibt; der Fuß tritt mit der Spitze weit ſicherer als mit der Seitenkante auf. Höchſt gefährlich ſind ſolche vereiste, ſteile Hänge, wenn friſch gefallener Schnee die glatten Eisſpiegel maskirt. Es fehlt nicht an haarſträubenden Schreckensgeſchichten zur Illuſtrirung des Ka¬ pitels von den Schneerutſchen, die urplötzlich mit der, auf der obe¬ ren, neugefallenen Schicht wandernden Geſellſchaft über der darun¬ ter verborgenen Eisbahn ſich in Bewegung ſetzten. Hugi hätte bei ſeinem zweiten Verſuch der Finſteraarhorn-Erſteigung beinahe durch ſolch einen Schneeſchlipf das Leben eingebüßt, wenn der entſchloſſene Leuthold ihn nicht noch im letzten Augenblicke mit nervigem Arm ergriffen und gerettet hätte. Das furchtbarſte Er¬ eigniß dieſer Art iſt jenes, welches die völlige Beſteigung des Mont¬ blanc durch den ruſſiſchen Naturforſcher, Hofrath Hamel vereitelte. Derſelbe war mit den beiden engliſchen Gelehrten der Oxforder Univerſität, Herren Dornford und Henderſon, unter Begleitung der kundigſten Chamounyführer (J. M. Coutet, Math. Balmat, Favret, Jules Devouaſſon u. A.) und vielen Trägern für Komfortabilitäten, Lebensmittel, mathematiſche und phyſikaliſche Inſtrumente, am 16. Auguſt 1820 von Prieuré ausgezogen, hatte am Grand Mou¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/299
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/299>, abgerufen am 17.05.2024.