Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Gletscher.
Seitdem muß fast regelmäßig jährlich die Operation wiederholt
werden.

Ein Seitenstück zum Gietroz ist der Biesgletscher im vielbe¬
suchten Nicolaus-Thal (Kanton Wallis). Er hängt mit einer Nei¬
gung von etwa 45 Grad an der östlichen Abdachung des kolossalen
Weißhornes und würde in seiner ganzen Mächtigkeit herabstürzen,
wenn ihn nicht der Frost an den Boden heftete. Daß die Last
aber zeitweise das Uebergewicht über dieses Bindemittel gewinnt,
haben die entsetzlichen Gletscher-Stürze der Jahre 1636, 1736, 1786
und ganz besonders der vom 27. December 1819 bewiesen. Letz¬
terer zerstörte lediglich durch den Luftdruck das jenseit des Thales,
an den Abhängen des Grabenhornes, gelegene Aelpler-Dorf Ran¬
dah. Häuser und Ställe wurden kopfüber weitweg zur Seite ge¬
schleudert, Mühlsteine fand man auf Kanonenschuß-Weite von ihrem
ehemaligen Bestimmungsorte, Dachbalken waren eine Viertelstunde
höher hinauf in einen Wald geworfen worden, die Spitze des
Kirchthurmes stak verkehrt wie ein in den Boden getriebener Keil
in einer Wiese, Vieh lag zerquetscht mehrere Hundert Klaftern durch
die Luft getragen, weitumher und nahe an hundert Häuser wurden
beschädigt. Wunderbarer Weise verloren nur wenig Menschen bei
dieser Katastrophe das Leben. -- Der Gletscher hat seit diesem
Radikal-Sturze wieder so an Masse gewonnen, daß ein ähnliches
Ereigniß in vielleicht nicht zu langer Zeit zu befürchten steht.


Der Gletſcher.
Seitdem muß faſt regelmäßig jährlich die Operation wiederholt
werden.

Ein Seitenſtück zum Gietroz iſt der Biesgletſcher im vielbe¬
ſuchten Nicolaus-Thal (Kanton Wallis). Er hängt mit einer Nei¬
gung von etwa 45 Grad an der öſtlichen Abdachung des koloſſalen
Weißhornes und würde in ſeiner ganzen Mächtigkeit herabſtürzen,
wenn ihn nicht der Froſt an den Boden heftete. Daß die Laſt
aber zeitweiſe das Uebergewicht über dieſes Bindemittel gewinnt,
haben die entſetzlichen Gletſcher-Stürze der Jahre 1636, 1736, 1786
und ganz beſonders der vom 27. December 1819 bewieſen. Letz¬
terer zerſtörte lediglich durch den Luftdruck das jenſeit des Thales,
an den Abhängen des Grabenhornes, gelegene Aelpler-Dorf Ran¬
dah. Häuſer und Ställe wurden kopfüber weitweg zur Seite ge¬
ſchleudert, Mühlſteine fand man auf Kanonenſchuß-Weite von ihrem
ehemaligen Beſtimmungsorte, Dachbalken waren eine Viertelſtunde
höher hinauf in einen Wald geworfen worden, die Spitze des
Kirchthurmes ſtak verkehrt wie ein in den Boden getriebener Keil
in einer Wieſe, Vieh lag zerquetſcht mehrere Hundert Klaftern durch
die Luft getragen, weitumher und nahe an hundert Häuſer wurden
beſchädigt. Wunderbarer Weiſe verloren nur wenig Menſchen bei
dieſer Kataſtrophe das Leben. — Der Gletſcher hat ſeit dieſem
Radikal-Sturze wieder ſo an Maſſe gewonnen, daß ein ähnliches
Ereigniß in vielleicht nicht zu langer Zeit zu befürchten ſteht.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0270" n="238"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Glet&#x017F;cher</hi>.<lb/></fw> Seitdem muß fa&#x017F;t regelmäßig jährlich die Operation wiederholt<lb/>
werden.</p><lb/>
        <p>Ein Seiten&#x017F;tück zum Gietroz i&#x017F;t der Biesglet&#x017F;cher im vielbe¬<lb/>
&#x017F;uchten Nicolaus-Thal (Kanton Wallis). Er hängt mit einer Nei¬<lb/>
gung von etwa 45 Grad an der ö&#x017F;tlichen Abdachung des kolo&#x017F;&#x017F;alen<lb/>
Weißhornes und würde in &#x017F;einer ganzen Mächtigkeit herab&#x017F;türzen,<lb/>
wenn ihn nicht der Fro&#x017F;t an den Boden heftete. Daß die La&#x017F;t<lb/>
aber zeitwei&#x017F;e das Uebergewicht über die&#x017F;es Bindemittel gewinnt,<lb/>
haben die ent&#x017F;etzlichen Glet&#x017F;cher-Stürze der Jahre 1636, 1736, 1786<lb/>
und ganz be&#x017F;onders der vom 27. December 1819 bewie&#x017F;en. Letz¬<lb/>
terer zer&#x017F;törte lediglich durch den Luftdruck das jen&#x017F;eit des Thales,<lb/>
an den Abhängen des Grabenhornes, gelegene Aelpler-Dorf Ran¬<lb/>
dah. Häu&#x017F;er und Ställe wurden kopfüber weitweg zur Seite ge¬<lb/>
&#x017F;chleudert, Mühl&#x017F;teine fand man auf Kanonen&#x017F;chuß-Weite von ihrem<lb/>
ehemaligen Be&#x017F;timmungsorte, Dachbalken waren eine Viertel&#x017F;tunde<lb/>
höher hinauf in einen Wald geworfen worden, die Spitze des<lb/>
Kirchthurmes &#x017F;tak verkehrt wie ein in den Boden getriebener Keil<lb/>
in einer Wie&#x017F;e, Vieh lag zerquet&#x017F;cht mehrere Hundert Klaftern durch<lb/>
die Luft getragen, weitumher und nahe an hundert Häu&#x017F;er wurden<lb/>
be&#x017F;chädigt. Wunderbarer Wei&#x017F;e verloren nur wenig Men&#x017F;chen bei<lb/>
die&#x017F;er Kata&#x017F;trophe das Leben. &#x2014; Der Glet&#x017F;cher hat &#x017F;eit die&#x017F;em<lb/>
Radikal-Sturze wieder &#x017F;o an Ma&#x017F;&#x017F;e gewonnen, daß ein ähnliches<lb/>
Ereigniß in vielleicht nicht zu langer Zeit zu befürchten &#x017F;teht.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0270] Der Gletſcher. Seitdem muß faſt regelmäßig jährlich die Operation wiederholt werden. Ein Seitenſtück zum Gietroz iſt der Biesgletſcher im vielbe¬ ſuchten Nicolaus-Thal (Kanton Wallis). Er hängt mit einer Nei¬ gung von etwa 45 Grad an der öſtlichen Abdachung des koloſſalen Weißhornes und würde in ſeiner ganzen Mächtigkeit herabſtürzen, wenn ihn nicht der Froſt an den Boden heftete. Daß die Laſt aber zeitweiſe das Uebergewicht über dieſes Bindemittel gewinnt, haben die entſetzlichen Gletſcher-Stürze der Jahre 1636, 1736, 1786 und ganz beſonders der vom 27. December 1819 bewieſen. Letz¬ terer zerſtörte lediglich durch den Luftdruck das jenſeit des Thales, an den Abhängen des Grabenhornes, gelegene Aelpler-Dorf Ran¬ dah. Häuſer und Ställe wurden kopfüber weitweg zur Seite ge¬ ſchleudert, Mühlſteine fand man auf Kanonenſchuß-Weite von ihrem ehemaligen Beſtimmungsorte, Dachbalken waren eine Viertelſtunde höher hinauf in einen Wald geworfen worden, die Spitze des Kirchthurmes ſtak verkehrt wie ein in den Boden getriebener Keil in einer Wieſe, Vieh lag zerquetſcht mehrere Hundert Klaftern durch die Luft getragen, weitumher und nahe an hundert Häuſer wurden beſchädigt. Wunderbarer Weiſe verloren nur wenig Menſchen bei dieſer Kataſtrophe das Leben. — Der Gletſcher hat ſeit dieſem Radikal-Sturze wieder ſo an Maſſe gewonnen, daß ein ähnliches Ereigniß in vielleicht nicht zu langer Zeit zu befürchten ſteht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/270
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/270>, abgerufen am 24.11.2024.