Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Gletscher. glaubte man, daß das abfließende Wasser die Oeffnung tieferschmelzen, also erweitern werde und dadurch nach und nach der ganze See, ohne Schaden anzurichten, geleert werden könne. Aber leider währten die Berathungen und gutachtlichen Berichte zu lange. Man hatte zwar unter Venetz's Leitung einen 700 Fuß langen Stollen ins Eis getrieben, der anfänglich ganz die erwarteten und gewünschten Dienste leistete und einen wesentlichen Theil des Sees schadlos ableitete. Aber die heiße Junisonne und die Wasserwärme bohrten und fraßen so eindringlich an dem Eisdamme, daß derselbe am Nachmittage des 16. Juni 1818 nicht mehr widerstehen konnte, einbrach und nun eine Wassermasse von 530 Millionen Kubikfuß mit Einemmal, bei einer schier rasenden Geschwindigkeit, durch das ganze Thal herabfluthete. Was den unbändig einherjagenden, völ¬ lig entfesselten Wogen im Wege lag, wurde eine Beute derselben; ganze Dörfer schwemmte die reißende Fluth hinweg, zusammen mehr als fünfhundert Gebäude; Tannen, schlank und schaftmächtig wie die Cedern des Libanon, kämpften in den Wellen mit hausgroßen Eis¬ blöcken, und im Grunde der tobenden Furie kanonirten mit dumpfem Donner-Gebrüll die hinweggerissenen Felsen-Brocken. Schutt, Ge¬ röll und Unrath überdeckten das ganze Bagne- und Rhone-Thal bis hinab an den Genfer-See. Trotzdem, daß durch Signale alle Thalbewohner von dem gräßlichen Ereigniß eilends in Kenntniß gesetzt und verwarnt wurden, büßten dennoch 34 Menschen ihr Le¬ ben dabei ein. Den verursachten Schaden schätzte man auf eine Million alter Schweizerfranken. Mit diesem entsetzlichen Vorfall war aber das Uebel durchaus nicht gehoben; schon im nächsten Jahre war der Gletscher-Damm aufs Neue zu fast gleicher Höhe an¬ gewachsen und drohte mit Wiederholung der Schreckens-Katastrophe. Da leitete der Ingenieur Venetz Quellwasser mittelst langer Holz¬ rinnen auf den Eisdamm und entfernte durch dieses erwärmte Wasser, welches wie eine Säge einschnitt, eine Parthie Eis nach der an¬ deren, so daß ohne allen Schaden die Gefahr abgewandt wurde. Der Gletſcher. glaubte man, daß das abfließende Waſſer die Oeffnung tieferſchmelzen, alſo erweitern werde und dadurch nach und nach der ganze See, ohne Schaden anzurichten, geleert werden könne. Aber leider währten die Berathungen und gutachtlichen Berichte zu lange. Man hatte zwar unter Venetz's Leitung einen 700 Fuß langen Stollen ins Eis getrieben, der anfänglich ganz die erwarteten und gewünſchten Dienſte leiſtete und einen weſentlichen Theil des Sees ſchadlos ableitete. Aber die heiße Juniſonne und die Waſſerwärme bohrten und fraßen ſo eindringlich an dem Eisdamme, daß derſelbe am Nachmittage des 16. Juni 1818 nicht mehr widerſtehen konnte, einbrach und nun eine Waſſermaſſe von 530 Millionen Kubikfuß mit Einemmal, bei einer ſchier raſenden Geſchwindigkeit, durch das ganze Thal herabfluthete. Was den unbändig einherjagenden, völ¬ lig entfeſſelten Wogen im Wege lag, wurde eine Beute derſelben; ganze Dörfer ſchwemmte die reißende Fluth hinweg, zuſammen mehr als fünfhundert Gebäude; Tannen, ſchlank und ſchaftmächtig wie die Cedern des Libanon, kämpften in den Wellen mit hausgroßen Eis¬ blöcken, und im Grunde der tobenden Furie kanonirten mit dumpfem Donner-Gebrüll die hinweggeriſſenen Felſen-Brocken. Schutt, Ge¬ röll und Unrath überdeckten das ganze Bagne- und Rhône-Thal bis hinab an den Genfer-See. Trotzdem, daß durch Signale alle Thalbewohner von dem gräßlichen Ereigniß eilends in Kenntniß geſetzt und verwarnt wurden, büßten dennoch 34 Menſchen ihr Le¬ ben dabei ein. Den verurſachten Schaden ſchätzte man auf eine Million alter Schweizerfranken. Mit dieſem entſetzlichen Vorfall war aber das Uebel durchaus nicht gehoben; ſchon im nächſten Jahre war der Gletſcher-Damm aufs Neue zu faſt gleicher Höhe an¬ gewachſen und drohte mit Wiederholung der Schreckens-Kataſtrophe. Da leitete der Ingenieur Venetz Quellwaſſer mittelſt langer Holz¬ rinnen auf den Eisdamm und entfernte durch dieſes erwärmte Waſſer, welches wie eine Säge einſchnitt, eine Parthie Eis nach der an¬ deren, ſo daß ohne allen Schaden die Gefahr abgewandt wurde. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0269" n="237"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Gletſcher</hi>.<lb/></fw> glaubte man, daß das abfließende Waſſer die Oeffnung tiefer<lb/> ſchmelzen, alſo erweitern werde und dadurch nach und nach der<lb/> ganze See, ohne Schaden anzurichten, geleert werden könne. 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Der Gletſcher.
glaubte man, daß das abfließende Waſſer die Oeffnung tiefer
ſchmelzen, alſo erweitern werde und dadurch nach und nach der
ganze See, ohne Schaden anzurichten, geleert werden könne. Aber
leider währten die Berathungen und gutachtlichen Berichte zu lange.
Man hatte zwar unter Venetz's Leitung einen 700 Fuß langen
Stollen ins Eis getrieben, der anfänglich ganz die erwarteten und
gewünſchten Dienſte leiſtete und einen weſentlichen Theil des Sees
ſchadlos ableitete. Aber die heiße Juniſonne und die Waſſerwärme
bohrten und fraßen ſo eindringlich an dem Eisdamme, daß derſelbe
am Nachmittage des 16. Juni 1818 nicht mehr widerſtehen konnte,
einbrach und nun eine Waſſermaſſe von 530 Millionen Kubikfuß
mit Einemmal, bei einer ſchier raſenden Geſchwindigkeit, durch das
ganze Thal herabfluthete. Was den unbändig einherjagenden, völ¬
lig entfeſſelten Wogen im Wege lag, wurde eine Beute derſelben;
ganze Dörfer ſchwemmte die reißende Fluth hinweg, zuſammen mehr
als fünfhundert Gebäude; Tannen, ſchlank und ſchaftmächtig wie die
Cedern des Libanon, kämpften in den Wellen mit hausgroßen Eis¬
blöcken, und im Grunde der tobenden Furie kanonirten mit dumpfem
Donner-Gebrüll die hinweggeriſſenen Felſen-Brocken. Schutt, Ge¬
röll und Unrath überdeckten das ganze Bagne- und Rhône-Thal
bis hinab an den Genfer-See. Trotzdem, daß durch Signale alle
Thalbewohner von dem gräßlichen Ereigniß eilends in Kenntniß
geſetzt und verwarnt wurden, büßten dennoch 34 Menſchen ihr Le¬
ben dabei ein. Den verurſachten Schaden ſchätzte man auf eine
Million alter Schweizerfranken. Mit dieſem entſetzlichen Vorfall
war aber das Uebel durchaus nicht gehoben; ſchon im nächſten
Jahre war der Gletſcher-Damm aufs Neue zu faſt gleicher Höhe an¬
gewachſen und drohte mit Wiederholung der Schreckens-Kataſtrophe.
Da leitete der Ingenieur Venetz Quellwaſſer mittelſt langer Holz¬
rinnen auf den Eisdamm und entfernte durch dieſes erwärmte Waſſer,
welches wie eine Säge einſchnitt, eine Parthie Eis nach der an¬
deren, ſo daß ohne allen Schaden die Gefahr abgewandt wurde.
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