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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Gletscher.
Bewegung der Gletscher ist eine durch die Abdachungsverhältnisse
der Gletscherbette bedingte und darum sehr verschiedene. Im All¬
gemeinen bewegt sich der Gletscher in der Mitte seines Körpers
rascher als an den beiden Uferseiten, in der Höhe stärker als in
der Tiefe. Nach Agassiz und seiner Gefährten Messungen auf dem
Aargletscher, während der Monate Juli bis September in verschie¬
denen Jahren, betrug das Fortrücken täglich etwa 8 Zoll. Pro¬
fessor Forbes fand an einigen Gletschern des Montblanc noch eine
raschere Bewegung. Doch läßt auch hier sich durchaus keine nor¬
male Durchschnittszahl aufstellen, indem der Einfluß der mittleren
Jahrestemperatur erfahrungsgemäß außerordentlich einwirkt. Nach
den von Ziegler am Grindelwaldgletscher angestellten Beobachtun¬
gen über die Bewegung im Winter, zeigte sich dieselbe im Januar
am Schwächsten, etwas entschiedener im December, bedeutend leb¬
hafter im Februar, und noch mehr zunehmend im März und April.
Ueberhaupt scheint jeder Gletscher während des Winters ziemlich
zu ruhen und im Frühjahre mit dem Erwachen der Natur auch
seine Thätigkeit aufs Neue aufzunehmen. Aber nicht blos im All¬
gemeinen an der Oberfläche ist die Bewegungsfähigkeit der Glet¬
scher eine verschiedene, sondern auch nach ihrer vertikalen Tiefe zu,
so daß die größte Bewegung an der Oberfläche sich zeigt, eine
verminderte in der Mitte, und die geringste in der dem Felsboden
aufliegenden Tiefe.

Die Gletscher-Theorie stellte schon sehr verschiedene Behaup¬
tungen und Folgerungen über die Natur der Gletscher-Bewegung
auf. Die ältesten Untersucher, namentlich der geistreiche, um die
Naturgeschichte und Physik der Alpen so hochverdiente de Saussure
nahm ein beständiges Gleiten der Eismassen über den geneigten
Boden an; Andere und unter ihnen der noch ältere Scheuchzer,
schrieben der durch den Frost herbeigeführten Ausdehnung der kry¬
stallisirten wässerigen Substanzen die Hauptschiebekraft zu und schufen
die Expansions- oder Dilatations-Theorie. Prof. Hugi, der die

Der Gletſcher.
Bewegung der Gletſcher iſt eine durch die Abdachungsverhältniſſe
der Gletſcherbette bedingte und darum ſehr verſchiedene. Im All¬
gemeinen bewegt ſich der Gletſcher in der Mitte ſeines Körpers
raſcher als an den beiden Uferſeiten, in der Höhe ſtärker als in
der Tiefe. Nach Agaſſiz und ſeiner Gefährten Meſſungen auf dem
Aargletſcher, während der Monate Juli bis September in verſchie¬
denen Jahren, betrug das Fortrücken täglich etwa 8 Zoll. Pro¬
feſſor Forbes fand an einigen Gletſchern des Montblanc noch eine
raſchere Bewegung. Doch läßt auch hier ſich durchaus keine nor¬
male Durchſchnittszahl aufſtellen, indem der Einfluß der mittleren
Jahrestemperatur erfahrungsgemäß außerordentlich einwirkt. Nach
den von Ziegler am Grindelwaldgletſcher angeſtellten Beobachtun¬
gen über die Bewegung im Winter, zeigte ſich dieſelbe im Januar
am Schwächſten, etwas entſchiedener im December, bedeutend leb¬
hafter im Februar, und noch mehr zunehmend im März und April.
Ueberhaupt ſcheint jeder Gletſcher während des Winters ziemlich
zu ruhen und im Frühjahre mit dem Erwachen der Natur auch
ſeine Thätigkeit aufs Neue aufzunehmen. Aber nicht blos im All¬
gemeinen an der Oberfläche iſt die Bewegungsfähigkeit der Glet¬
ſcher eine verſchiedene, ſondern auch nach ihrer vertikalen Tiefe zu,
ſo daß die größte Bewegung an der Oberfläche ſich zeigt, eine
verminderte in der Mitte, und die geringſte in der dem Felsboden
aufliegenden Tiefe.

Die Gletſcher-Theorie ſtellte ſchon ſehr verſchiedene Behaup¬
tungen und Folgerungen über die Natur der Gletſcher-Bewegung
auf. Die älteſten Unterſucher, namentlich der geiſtreiche, um die
Naturgeſchichte und Phyſik der Alpen ſo hochverdiente de Sauſſure
nahm ein beſtändiges Gleiten der Eismaſſen über den geneigten
Boden an; Andere und unter ihnen der noch ältere Scheuchzer,
ſchrieben der durch den Froſt herbeigeführten Ausdehnung der kry¬
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[234/0266] Der Gletſcher. Bewegung der Gletſcher iſt eine durch die Abdachungsverhältniſſe der Gletſcherbette bedingte und darum ſehr verſchiedene. Im All¬ gemeinen bewegt ſich der Gletſcher in der Mitte ſeines Körpers raſcher als an den beiden Uferſeiten, in der Höhe ſtärker als in der Tiefe. Nach Agaſſiz und ſeiner Gefährten Meſſungen auf dem Aargletſcher, während der Monate Juli bis September in verſchie¬ denen Jahren, betrug das Fortrücken täglich etwa 8 Zoll. Pro¬ feſſor Forbes fand an einigen Gletſchern des Montblanc noch eine raſchere Bewegung. Doch läßt auch hier ſich durchaus keine nor¬ male Durchſchnittszahl aufſtellen, indem der Einfluß der mittleren Jahrestemperatur erfahrungsgemäß außerordentlich einwirkt. Nach den von Ziegler am Grindelwaldgletſcher angeſtellten Beobachtun¬ gen über die Bewegung im Winter, zeigte ſich dieſelbe im Januar am Schwächſten, etwas entſchiedener im December, bedeutend leb¬ hafter im Februar, und noch mehr zunehmend im März und April. Ueberhaupt ſcheint jeder Gletſcher während des Winters ziemlich zu ruhen und im Frühjahre mit dem Erwachen der Natur auch ſeine Thätigkeit aufs Neue aufzunehmen. Aber nicht blos im All¬ gemeinen an der Oberfläche iſt die Bewegungsfähigkeit der Glet¬ ſcher eine verſchiedene, ſondern auch nach ihrer vertikalen Tiefe zu, ſo daß die größte Bewegung an der Oberfläche ſich zeigt, eine verminderte in der Mitte, und die geringſte in der dem Felsboden aufliegenden Tiefe. Die Gletſcher-Theorie ſtellte ſchon ſehr verſchiedene Behaup¬ tungen und Folgerungen über die Natur der Gletſcher-Bewegung auf. Die älteſten Unterſucher, namentlich der geiſtreiche, um die Naturgeſchichte und Phyſik der Alpen ſo hochverdiente de Sauſſure nahm ein beſtändiges Gleiten der Eismaſſen über den geneigten Boden an; Andere und unter ihnen der noch ältere Scheuchzer, ſchrieben der durch den Froſt herbeigeführten Ausdehnung der kry¬ ſtalliſirten wäſſerigen Subſtanzen die Hauptſchiebekraft zu und ſchufen die Expanſions- oder Dilatations-Theorie. Prof. Hugi, der die

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/266>, abgerufen am 24.11.2024.