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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Die Lauine.
hängen, lösen leckend Kryställchen, die dem Rasen, dem Felsen,
zunächst aufliegen, in flüssiges Wasser auf, das den Boden schlüpfrig
macht und den unmittelbaren Zusammenhang beider vernichtet.
Also langsam vorbereitet, der natürlichen Stütze oder Unterlage
theilweise beraubt, vermag die Kohäsion der einzelnen Schnee¬
partikelchen das ganze, große, untenher gehöhlte Schneefeld nicht
mehr zu halten; das Gesetz der nach Unten strebenden Schwere
macht seine Rechte geltend, die Masse löst sich ab und rutscht, je
nach der mehr oder minder starken Neigung des Berges, von
Sekunde zu Sekunde an Beschleunigung gewinnend, der Tiefe zu.
Alles, was ihr im Wege liegt oder steht, wird in die Verderben
drohende Sturzmasse hineingewickelt und zu Thal geführt. Die
Berner Oberländer nennen sie "Schmelz-Lauinen." Gegen den
Anbruch dieser Grund-Lauinen zu wirken, sind zunächst die Bann¬
wälder (vgl. S. 68) bestimmt. Aber noch kleinere Pflanzenkörper
vermögen viel, um den Schnee besser an den Boden zu fesseln,
gleichsam mit ihm zu verflechten und das Abstürzen zu verhindern,
namentlich die auf den Planggen und steil abschüssigen Hochhalden
wachsenden Wildgräser und Kräuter, -- das Material, aus dem
der arme Wildheuer seine Kuh oder seine Ziegen mit Winterfutter
versorgt. Dort, wo es im Sommer abgemäht wird, zeigen sich im
folgenden Frühjahr fast überall Rutsch- und Schlag-Lauinen, wäh¬
rend die stehengebliebenen, im Herbst abgestorbenen Grashalme ein
natürliches, zähes Bindemittel zwischen dem Boden und dem
Schnee bilden.

Die meisten Grund-Lauinen haben ihre regelmäßigen Passagen,
ihre ausgefegten, von Weitem kenntlichen Schurfrinnen, "Lauinen¬
züge
" genannt, durch welche sie allfrühjährlich herniederrasen.
Sie stehen in einiger Verwandtschaft mit den Betten der Rüfen,
nur sind sie minder trümmererfüllt, sondern zeigen mehr glatt aus¬
gehobelte breite Felsenrinnen (bis 100 Fuß Durchmesser), in denen
allerdings immer etwas Gebirgsschutt zurückbleibt. Die Bewohner

Die Lauine.
hängen, löſen leckend Kryſtällchen, die dem Raſen, dem Felſen,
zunächſt aufliegen, in flüſſiges Waſſer auf, das den Boden ſchlüpfrig
macht und den unmittelbaren Zuſammenhang beider vernichtet.
Alſo langſam vorbereitet, der natürlichen Stütze oder Unterlage
theilweiſe beraubt, vermag die Kohäſion der einzelnen Schnee¬
partikelchen das ganze, große, untenher gehöhlte Schneefeld nicht
mehr zu halten; das Geſetz der nach Unten ſtrebenden Schwere
macht ſeine Rechte geltend, die Maſſe löſt ſich ab und rutſcht, je
nach der mehr oder minder ſtarken Neigung des Berges, von
Sekunde zu Sekunde an Beſchleunigung gewinnend, der Tiefe zu.
Alles, was ihr im Wege liegt oder ſteht, wird in die Verderben
drohende Sturzmaſſe hineingewickelt und zu Thal geführt. Die
Berner Oberländer nennen ſie „Schmelz-Lauinen.“ Gegen den
Anbruch dieſer Grund-Lauinen zu wirken, ſind zunächſt die Bann¬
wälder (vgl. S. 68) beſtimmt. Aber noch kleinere Pflanzenkörper
vermögen viel, um den Schnee beſſer an den Boden zu feſſeln,
gleichſam mit ihm zu verflechten und das Abſtürzen zu verhindern,
namentlich die auf den Planggen und ſteil abſchüſſigen Hochhalden
wachſenden Wildgräſer und Kräuter, — das Material, aus dem
der arme Wildheuer ſeine Kuh oder ſeine Ziegen mit Winterfutter
verſorgt. Dort, wo es im Sommer abgemäht wird, zeigen ſich im
folgenden Frühjahr faſt überall Rutſch- und Schlag-Lauinen, wäh¬
rend die ſtehengebliebenen, im Herbſt abgeſtorbenen Grashalme ein
natürliches, zähes Bindemittel zwiſchen dem Boden und dem
Schnee bilden.

Die meiſten Grund-Lauinen haben ihre regelmäßigen Paſſagen,
ihre ausgefegten, von Weitem kenntlichen Schurfrinnen, „Lauinen¬
züge
“ genannt, durch welche ſie allfrühjährlich herniederraſen.
Sie ſtehen in einiger Verwandtſchaft mit den Betten der Rüfen,
nur ſind ſie minder trümmererfüllt, ſondern zeigen mehr glatt aus¬
gehobelte breite Felſenrinnen (bis 100 Fuß Durchmeſſer), in denen
allerdings immer etwas Gebirgsſchutt zurückbleibt. Die Bewohner

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[203/0233] Die Lauine. hängen, löſen leckend Kryſtällchen, die dem Raſen, dem Felſen, zunächſt aufliegen, in flüſſiges Waſſer auf, das den Boden ſchlüpfrig macht und den unmittelbaren Zuſammenhang beider vernichtet. Alſo langſam vorbereitet, der natürlichen Stütze oder Unterlage theilweiſe beraubt, vermag die Kohäſion der einzelnen Schnee¬ partikelchen das ganze, große, untenher gehöhlte Schneefeld nicht mehr zu halten; das Geſetz der nach Unten ſtrebenden Schwere macht ſeine Rechte geltend, die Maſſe löſt ſich ab und rutſcht, je nach der mehr oder minder ſtarken Neigung des Berges, von Sekunde zu Sekunde an Beſchleunigung gewinnend, der Tiefe zu. Alles, was ihr im Wege liegt oder ſteht, wird in die Verderben drohende Sturzmaſſe hineingewickelt und zu Thal geführt. Die Berner Oberländer nennen ſie „Schmelz-Lauinen.“ Gegen den Anbruch dieſer Grund-Lauinen zu wirken, ſind zunächſt die Bann¬ wälder (vgl. S. 68) beſtimmt. Aber noch kleinere Pflanzenkörper vermögen viel, um den Schnee beſſer an den Boden zu feſſeln, gleichſam mit ihm zu verflechten und das Abſtürzen zu verhindern, namentlich die auf den Planggen und ſteil abſchüſſigen Hochhalden wachſenden Wildgräſer und Kräuter, — das Material, aus dem der arme Wildheuer ſeine Kuh oder ſeine Ziegen mit Winterfutter verſorgt. Dort, wo es im Sommer abgemäht wird, zeigen ſich im folgenden Frühjahr faſt überall Rutſch- und Schlag-Lauinen, wäh¬ rend die ſtehengebliebenen, im Herbſt abgeſtorbenen Grashalme ein natürliches, zähes Bindemittel zwiſchen dem Boden und dem Schnee bilden. Die meiſten Grund-Lauinen haben ihre regelmäßigen Paſſagen, ihre ausgefegten, von Weitem kenntlichen Schurfrinnen, „Lauinen¬ züge“ genannt, durch welche ſie allfrühjährlich herniederraſen. Sie ſtehen in einiger Verwandtſchaft mit den Betten der Rüfen, nur ſind ſie minder trümmererfüllt, ſondern zeigen mehr glatt aus¬ gehobelte breite Felſenrinnen (bis 100 Fuß Durchmeſſer), in denen allerdings immer etwas Gebirgsſchutt zurückbleibt. Die Bewohner

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/233>, abgerufen am 06.05.2024.