Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.
Die Lauine. Graubündner St. Antönien-Thal, (durch welches ein Paßweg ausdem Prätigau über die Rhätikon-Kette ins Gargellen- und Monta¬ funer-Thal führt) sah ein Knecht weit droben an der Bergwand, vielleicht 11/2 Stunde von seinem Standpunkte, eine Lauine an¬ brechen und eilte, einen Stall zu erreichen, der ziemlich gesichert stand. Obgleich dieser etwa nur 14 Schritte entfernt war, so ver¬ mochte er denselben doch nicht zu erreichen, sondern wurde vom vorausjagenden Windstoß ergriffen, über das Dalfazzer Tobel hinübergeschleudert und dort von der mit Blitzesschnelle nachfol¬ genden Lauine begraben. -- Anno 1754 wetterte von Piz Muraun eine Staub-Laui über St. Placis-Thal herab, füllte das ganze Thal von der Landstraße bis Caprau, schleuderte einen aus Granit gehauenen Tränktrog von Falcaridas bis Brulf eine Viertelstunde weit hinüber, und lediglich der Seitenwind dieser Laui warf noch die Kuppel des östlichen Klosterthurmes von Dissentis herunter, obgleich derselbe eine halbe Stunde vom eigentlichen Strich ent¬ fernt war. Daß die Lauine Wälder-Parcellen von einigen Tausend Stämmen radikal durch den Luftdruck entwurzelt, oder im Schafte wie Schwefelhölzchen abknickt und weitumher ausstreut, gehört gar nicht zu den Seltenheiten; jedes Hochalpthal liefert jährlich Bei¬ spiele mehr als wünschenswerth. In der Regel ist es der Fall, daß eine angebrochene Lauine Die Lauine. Graubündner St. Antönien-Thal, (durch welches ein Paßweg ausdem Prätigau über die Rhätikon-Kette ins Gargellen- und Monta¬ funer-Thal führt) ſah ein Knecht weit droben an der Bergwand, vielleicht 1½ Stunde von ſeinem Standpunkte, eine Lauine an¬ brechen und eilte, einen Stall zu erreichen, der ziemlich geſichert ſtand. Obgleich dieſer etwa nur 14 Schritte entfernt war, ſo ver¬ mochte er denſelben doch nicht zu erreichen, ſondern wurde vom vorausjagenden Windſtoß ergriffen, über das Dalfazzer Tobel hinübergeſchleudert und dort von der mit Blitzesſchnelle nachfol¬ genden Lauine begraben. — Anno 1754 wetterte von Piz Muraun eine Staub-Laui über St. Placis-Thal herab, füllte das ganze Thal von der Landſtraße bis Caprau, ſchleuderte einen aus Granit gehauenen Tränktrog von Falcaridas bis Brulf eine Viertelſtunde weit hinüber, und lediglich der Seitenwind dieſer Laui warf noch die Kuppel des öſtlichen Kloſterthurmes von Diſſentis herunter, obgleich derſelbe eine halbe Stunde vom eigentlichen Strich ent¬ fernt war. Daß die Lauine Wälder-Parcellen von einigen Tauſend Stämmen radikal durch den Luftdruck entwurzelt, oder im Schafte wie Schwefelhölzchen abknickt und weitumher ausſtreut, gehört gar nicht zu den Seltenheiten; jedes Hochalpthal liefert jährlich Bei¬ ſpiele mehr als wünſchenswerth. In der Regel iſt es der Fall, daß eine angebrochene Lauine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0230" n="200"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Die Lauine</hi>.<lb/></fw>Graubündner St. Antönien-Thal, (durch welches ein Paßweg aus<lb/> dem Prätigau über die Rhätikon-Kette ins Gargellen- und Monta¬<lb/> funer-Thal führt) ſah ein Knecht weit droben an der Bergwand,<lb/> vielleicht 1½ Stunde von ſeinem Standpunkte, eine Lauine an¬<lb/> brechen und eilte, einen Stall zu erreichen, der ziemlich geſichert<lb/> ſtand. Obgleich dieſer etwa nur 14 Schritte entfernt war, ſo ver¬<lb/> mochte er denſelben doch nicht zu erreichen, ſondern wurde vom<lb/> vorausjagenden Windſtoß ergriffen, über das Dalfazzer Tobel<lb/> hinübergeſchleudert und dort von der mit Blitzesſchnelle nachfol¬<lb/> genden Lauine begraben. — Anno 1754 wetterte von Piz Muraun<lb/> eine Staub-Laui über St. Placis-Thal herab, füllte das ganze<lb/> Thal von der Landſtraße bis Caprau, ſchleuderte einen aus Granit<lb/> gehauenen Tränktrog von Falcaridas bis Brulf eine Viertelſtunde<lb/> weit hinüber, und lediglich der Seitenwind dieſer Laui warf noch<lb/> die Kuppel des öſtlichen Kloſterthurmes von Diſſentis herunter,<lb/> obgleich derſelbe eine halbe Stunde vom eigentlichen Strich ent¬<lb/> fernt war. Daß die Lauine Wälder-Parcellen von einigen Tauſend<lb/> Stämmen radikal durch den Luftdruck entwurzelt, oder im Schafte<lb/> wie Schwefelhölzchen abknickt und weitumher ausſtreut, gehört gar<lb/> nicht zu den Seltenheiten; jedes Hochalpthal liefert jährlich Bei¬<lb/> ſpiele mehr als wünſchenswerth.</p><lb/> <p>In der Regel iſt es der Fall, daß eine angebrochene Lauine<lb/> durch die energiſche Luftſtrömung und das donnernde, Luftſchwin¬<lb/> gungen erzeugende Geräuſch den Fall von anderen ſekundären<lb/> Lauinen veranlaßt, und hieraus läßt ſich jene Mittheilung wohl<lb/> erklären, welche aus dem Lauterbrunnen-Thale berichtet, daß im<lb/> vorigen Jahrhundert die Stuffen-Laui 24 Stunden lang geſtürzt<lb/> ſei. Ein Fall aus allerjüngſter Zeit beſtätiget Aehnliches. Im<lb/> Frühjahr 1854 fand ein ſo anhaltender Lauinen-Sturz an der<lb/> Schattenſeite des Realper Thales ſtatt, daß in der Ausdehnung<lb/> von mehr als Stunden-Länge eine Schneemaſſe nach der anderen<lb/> durch Luftdruck und Erſchütterung in Bewegung geſetzt wurde.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [200/0230]
Die Lauine.
Graubündner St. Antönien-Thal, (durch welches ein Paßweg aus
dem Prätigau über die Rhätikon-Kette ins Gargellen- und Monta¬
funer-Thal führt) ſah ein Knecht weit droben an der Bergwand,
vielleicht 1½ Stunde von ſeinem Standpunkte, eine Lauine an¬
brechen und eilte, einen Stall zu erreichen, der ziemlich geſichert
ſtand. Obgleich dieſer etwa nur 14 Schritte entfernt war, ſo ver¬
mochte er denſelben doch nicht zu erreichen, ſondern wurde vom
vorausjagenden Windſtoß ergriffen, über das Dalfazzer Tobel
hinübergeſchleudert und dort von der mit Blitzesſchnelle nachfol¬
genden Lauine begraben. — Anno 1754 wetterte von Piz Muraun
eine Staub-Laui über St. Placis-Thal herab, füllte das ganze
Thal von der Landſtraße bis Caprau, ſchleuderte einen aus Granit
gehauenen Tränktrog von Falcaridas bis Brulf eine Viertelſtunde
weit hinüber, und lediglich der Seitenwind dieſer Laui warf noch
die Kuppel des öſtlichen Kloſterthurmes von Diſſentis herunter,
obgleich derſelbe eine halbe Stunde vom eigentlichen Strich ent¬
fernt war. Daß die Lauine Wälder-Parcellen von einigen Tauſend
Stämmen radikal durch den Luftdruck entwurzelt, oder im Schafte
wie Schwefelhölzchen abknickt und weitumher ausſtreut, gehört gar
nicht zu den Seltenheiten; jedes Hochalpthal liefert jährlich Bei¬
ſpiele mehr als wünſchenswerth.
In der Regel iſt es der Fall, daß eine angebrochene Lauine
durch die energiſche Luftſtrömung und das donnernde, Luftſchwin¬
gungen erzeugende Geräuſch den Fall von anderen ſekundären
Lauinen veranlaßt, und hieraus läßt ſich jene Mittheilung wohl
erklären, welche aus dem Lauterbrunnen-Thale berichtet, daß im
vorigen Jahrhundert die Stuffen-Laui 24 Stunden lang geſtürzt
ſei. Ein Fall aus allerjüngſter Zeit beſtätiget Aehnliches. Im
Frühjahr 1854 fand ein ſo anhaltender Lauinen-Sturz an der
Schattenſeite des Realper Thales ſtatt, daß in der Ausdehnung
von mehr als Stunden-Länge eine Schneemaſſe nach der anderen
durch Luftdruck und Erſchütterung in Bewegung geſetzt wurde.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/230 |
| Zitationshilfe: | Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/230>, abgerufen am 06.05.2024. |
