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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Kastanienwald.
Einschnitte lagert sich die volle Wucht der Sonnenstrahlen und er¬
hitzt die Felsenwände oft in hohem Grade. Kein Dorf, kein Wei¬
ler, kein Hof liegt unten im Thale, alle droben an den prächtig
grünen Berghängen. Dort componirt sich, namentlich an der Ab¬
dachung der Monte-Rosa-Gruppe, jede einzelne Ortschaft aus einer
Menge kleiner zerstreuter Gemeinden (cantoni), die aus großen
respektabelen Steinhäusern im italienischen Styl, je mit einer Ka¬
pelle, bestehen. Aber man kann viele derselben kaum sehen, weil
sie in den Wipfelwald der Kastanien verhüllt sind. Ein reizend¬
idyllisches Bild dieser Art stellt z. B. das Dorf Rossa im Sesia-
Thale dar, wo der vielleicht prächtigste Kastanienwald der ganzen
südlichen Alpen-Abdachung steht. Diese Hochlage der Dörfer giebt
den Monte-Rosa-Thälern in Piemont ein durchaus von dem Cha¬
rakter der nördlichen Alpthäler abweichendes Ansehen. Bei dem
Schmuck, den ihnen die diamantklaren, mit leicht grünlichem An¬
hauch gleichsam schillernden Bergbäche und die durch dieselben ge¬
bildeten krystallhellen Wasserbecken verleihen, würden diese Thäler
die schönsten der ganzen Alpenwelt sein, wenn ihre Berge nach der
Höhe zu farbiger und formenreicher wären. Aber nicht selten gehen
sie in eine fast trostlose Monotonie über, die ganz besonders in
den Grajischen Alpen vorherrscht.

Nicht allenthalben stehen die Bäume so dicht. Früher z. B.
bedeckte den Monte Cenere, über welchen die sehr frequente Land¬
straße von Bellinzona nach Lugano führt, ein dichter Kastanien¬
wald; da sich aber viel Raubgesindel und Wegelagerer in demsel¬
ben aufhielt, so lichtete man ihn bedeutend. Hierdurch gewannen
die Bäume an Licht und Raum und dehnen jetzt ihre Astkuppeln
ungemein wohlig aus.

Ganz anders präsentirt sich der frei und einzelnstehende Baum.
Im ersten Blicke gleicht er in dem übermüthigen, trotzigen Umsich¬
zacken der Prinzipal-Aeste, in der breitspurigen, knotig-positiven Kon¬
stitution des kurzen, vierschrötigen Stammklotzes, in der warzig¬

Kaſtanienwald.
Einſchnitte lagert ſich die volle Wucht der Sonnenſtrahlen und er¬
hitzt die Felſenwände oft in hohem Grade. Kein Dorf, kein Wei¬
ler, kein Hof liegt unten im Thale, alle droben an den prächtig
grünen Berghängen. Dort componirt ſich, namentlich an der Ab¬
dachung der Monte-Roſa-Gruppe, jede einzelne Ortſchaft aus einer
Menge kleiner zerſtreuter Gemeinden (cantoni), die aus großen
reſpektabelen Steinhäuſern im italieniſchen Styl, je mit einer Ka¬
pelle, beſtehen. Aber man kann viele derſelben kaum ſehen, weil
ſie in den Wipfelwald der Kaſtanien verhüllt ſind. Ein reizend¬
idylliſches Bild dieſer Art ſtellt z. B. das Dorf Roſſa im Seſia-
Thale dar, wo der vielleicht prächtigſte Kaſtanienwald der ganzen
ſüdlichen Alpen-Abdachung ſteht. Dieſe Hochlage der Dörfer giebt
den Monte-Roſa-Thälern in Piemont ein durchaus von dem Cha¬
rakter der nördlichen Alpthäler abweichendes Anſehen. Bei dem
Schmuck, den ihnen die diamantklaren, mit leicht grünlichem An¬
hauch gleichſam ſchillernden Bergbäche und die durch dieſelben ge¬
bildeten kryſtallhellen Waſſerbecken verleihen, würden dieſe Thäler
die ſchönſten der ganzen Alpenwelt ſein, wenn ihre Berge nach der
Höhe zu farbiger und formenreicher wären. Aber nicht ſelten gehen
ſie in eine faſt troſtloſe Monotonie über, die ganz beſonders in
den Grajiſchen Alpen vorherrſcht.

Nicht allenthalben ſtehen die Bäume ſo dicht. Früher z. B.
bedeckte den Monte Cenere, über welchen die ſehr frequente Land¬
ſtraße von Bellinzona nach Lugano führt, ein dichter Kaſtanien¬
wald; da ſich aber viel Raubgeſindel und Wegelagerer in demſel¬
ben aufhielt, ſo lichtete man ihn bedeutend. Hierdurch gewannen
die Bäume an Licht und Raum und dehnen jetzt ihre Aſtkuppeln
ungemein wohlig aus.

Ganz anders präſentirt ſich der frei und einzelnſtehende Baum.
Im erſten Blicke gleicht er in dem übermüthigen, trotzigen Umſich¬
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[114/0142] Kaſtanienwald. Einſchnitte lagert ſich die volle Wucht der Sonnenſtrahlen und er¬ hitzt die Felſenwände oft in hohem Grade. Kein Dorf, kein Wei¬ ler, kein Hof liegt unten im Thale, alle droben an den prächtig grünen Berghängen. Dort componirt ſich, namentlich an der Ab¬ dachung der Monte-Roſa-Gruppe, jede einzelne Ortſchaft aus einer Menge kleiner zerſtreuter Gemeinden (cantoni), die aus großen reſpektabelen Steinhäuſern im italieniſchen Styl, je mit einer Ka¬ pelle, beſtehen. Aber man kann viele derſelben kaum ſehen, weil ſie in den Wipfelwald der Kaſtanien verhüllt ſind. Ein reizend¬ idylliſches Bild dieſer Art ſtellt z. B. das Dorf Roſſa im Seſia- Thale dar, wo der vielleicht prächtigſte Kaſtanienwald der ganzen ſüdlichen Alpen-Abdachung ſteht. Dieſe Hochlage der Dörfer giebt den Monte-Roſa-Thälern in Piemont ein durchaus von dem Cha¬ rakter der nördlichen Alpthäler abweichendes Anſehen. Bei dem Schmuck, den ihnen die diamantklaren, mit leicht grünlichem An¬ hauch gleichſam ſchillernden Bergbäche und die durch dieſelben ge¬ bildeten kryſtallhellen Waſſerbecken verleihen, würden dieſe Thäler die ſchönſten der ganzen Alpenwelt ſein, wenn ihre Berge nach der Höhe zu farbiger und formenreicher wären. Aber nicht ſelten gehen ſie in eine faſt troſtloſe Monotonie über, die ganz beſonders in den Grajiſchen Alpen vorherrſcht. Nicht allenthalben ſtehen die Bäume ſo dicht. Früher z. B. bedeckte den Monte Cenere, über welchen die ſehr frequente Land¬ ſtraße von Bellinzona nach Lugano führt, ein dichter Kaſtanien¬ wald; da ſich aber viel Raubgeſindel und Wegelagerer in demſel¬ ben aufhielt, ſo lichtete man ihn bedeutend. Hierdurch gewannen die Bäume an Licht und Raum und dehnen jetzt ihre Aſtkuppeln ungemein wohlig aus. Ganz anders präſentirt ſich der frei und einzelnſtehende Baum. Im erſten Blicke gleicht er in dem übermüthigen, trotzigen Umſich¬ zacken der Prinzipal-Aeſte, in der breitſpurigen, knotig-poſitiven Kon¬ ſtitution des kurzen, vierſchrötigen Stammklotzes, in der warzig¬

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/142>, abgerufen am 04.05.2024.