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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Südliche Alpenthäler.

Fortwährend mahnen Gallerien und Zufluchtshäuser auf Schritt
und Tritt daran, daß in der schlimmen Jahreszeit der Tod auf
den Wanderer lauert, um mit einem Löwensprung als Lauine oder
im wüthenden Wirbel als Schneesturm seine Beute zu packen. --

Ist nun die Freude an der farbigen, blühenden, lebensvollen
Natur fast auf den Gefrierpunkt herabgeschraubt, hat uns die hei¬
tere Welt der Organismen fast ganz verlassen, sind wir auf der
öden Paßhöbe von 6500 Fuß angelangt, dann erschließt sich, erst
eng und begränzt, dann immer mehr sich erweiternd ein neuer
Niederblick auf neues Leben. Die erste Stunde bietet noch wenig;
doch grüßen schon hie und da die reizenden Aretien-Polster mit ih¬
ren blendendweißen Vergißmeinnicht-Aeuglein, die fröhlichen, rothen,
nelkenartigen Silenen, und die bescheidenen Androsaceen, immer
gesellschaftsweise versammelt. Noch etwas weiter hinab kommen
dann schon Anemonen und Veroniken, holzstengelige Strauchpflänz¬
chen, und drüben an den Felsenwänden kriechen als Vorboten der
Baumregion die Lazzaroni der Alpen, die Legföhren herab. Mit
welchem Jubel wird die erste Lärchen- oder Rothtanne begrüßt!
wie lieben alten Bekannten schwingen wir ihnen den Hut entgegen.

Nun wächst es mit jeder neuen Krümmung des Weges. Die
einzelnstehenden Bäume schaaren sich schon gruppenweis zusammen
und gehen in kleine Waldflecken über, die an den Seitenhängen
emporklimmen. Rundliche Laubholzkuppeln mischen sich darunter,
weißschalige Birken leuchten von Weitem vereinzelt daraus hervor.
Die ganze Pflanzendecke schwillt wieder an und gewinnt an Kraft,
Höhe und Leben. Noch um eine Straßenecke herum, -- und
plötzlich öffnet sich ein tiefausgedehnter Niederblick in das zu Füßen
liegende Hauptthal. Die Bergkoulissen schieben von beiden Seiten
korrespondirend sich vor, immer matter nach dem Hintergrund zu
erblauend. Dörfer, Weiler, schlanke Kirchthürme winken herauf,
und wie ein großer Faden verbindet sie die lange schmale Linie
der Kunststraße. Da hinab also gehts in das ersehnte Land der

Südliche Alpenthäler.

Fortwährend mahnen Gallerien und Zufluchtshäuſer auf Schritt
und Tritt daran, daß in der ſchlimmen Jahreszeit der Tod auf
den Wanderer lauert, um mit einem Löwenſprung als Lauine oder
im wüthenden Wirbel als Schneeſturm ſeine Beute zu packen. —

Iſt nun die Freude an der farbigen, blühenden, lebensvollen
Natur faſt auf den Gefrierpunkt herabgeſchraubt, hat uns die hei¬
tere Welt der Organismen faſt ganz verlaſſen, ſind wir auf der
öden Paßhöbe von 6500 Fuß angelangt, dann erſchließt ſich, erſt
eng und begränzt, dann immer mehr ſich erweiternd ein neuer
Niederblick auf neues Leben. Die erſte Stunde bietet noch wenig;
doch grüßen ſchon hie und da die reizenden Aretien-Polſter mit ih¬
ren blendendweißen Vergißmeinnicht-Aeuglein, die fröhlichen, rothen,
nelkenartigen Silenen, und die beſcheidenen Androſaceen, immer
geſellſchaftsweiſe verſammelt. Noch etwas weiter hinab kommen
dann ſchon Anemonen und Veroniken, holzſtengelige Strauchpflänz¬
chen, und drüben an den Felſenwänden kriechen als Vorboten der
Baumregion die Lazzaroni der Alpen, die Legföhren herab. Mit
welchem Jubel wird die erſte Lärchen- oder Rothtanne begrüßt!
wie lieben alten Bekannten ſchwingen wir ihnen den Hut entgegen.

Nun wächſt es mit jeder neuen Krümmung des Weges. Die
einzelnſtehenden Bäume ſchaaren ſich ſchon gruppenweis zuſammen
und gehen in kleine Waldflecken über, die an den Seitenhängen
emporklimmen. Rundliche Laubholzkuppeln miſchen ſich darunter,
weißſchalige Birken leuchten von Weitem vereinzelt daraus hervor.
Die ganze Pflanzendecke ſchwillt wieder an und gewinnt an Kraft,
Höhe und Leben. Noch um eine Straßenecke herum, — und
plötzlich öffnet ſich ein tiefausgedehnter Niederblick in das zu Füßen
liegende Hauptthal. Die Bergkouliſſen ſchieben von beiden Seiten
korreſpondirend ſich vor, immer matter nach dem Hintergrund zu
erblauend. Dörfer, Weiler, ſchlanke Kirchthürme winken herauf,
und wie ein großer Faden verbindet ſie die lange ſchmale Linie
der Kunſtſtraße. Da hinab alſo gehts in das erſehnte Land der

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[107/0133] Südliche Alpenthäler. Fortwährend mahnen Gallerien und Zufluchtshäuſer auf Schritt und Tritt daran, daß in der ſchlimmen Jahreszeit der Tod auf den Wanderer lauert, um mit einem Löwenſprung als Lauine oder im wüthenden Wirbel als Schneeſturm ſeine Beute zu packen. — Iſt nun die Freude an der farbigen, blühenden, lebensvollen Natur faſt auf den Gefrierpunkt herabgeſchraubt, hat uns die hei¬ tere Welt der Organismen faſt ganz verlaſſen, ſind wir auf der öden Paßhöbe von 6500 Fuß angelangt, dann erſchließt ſich, erſt eng und begränzt, dann immer mehr ſich erweiternd ein neuer Niederblick auf neues Leben. Die erſte Stunde bietet noch wenig; doch grüßen ſchon hie und da die reizenden Aretien-Polſter mit ih¬ ren blendendweißen Vergißmeinnicht-Aeuglein, die fröhlichen, rothen, nelkenartigen Silenen, und die beſcheidenen Androſaceen, immer geſellſchaftsweiſe verſammelt. Noch etwas weiter hinab kommen dann ſchon Anemonen und Veroniken, holzſtengelige Strauchpflänz¬ chen, und drüben an den Felſenwänden kriechen als Vorboten der Baumregion die Lazzaroni der Alpen, die Legföhren herab. Mit welchem Jubel wird die erſte Lärchen- oder Rothtanne begrüßt! wie lieben alten Bekannten ſchwingen wir ihnen den Hut entgegen. Nun wächſt es mit jeder neuen Krümmung des Weges. Die einzelnſtehenden Bäume ſchaaren ſich ſchon gruppenweis zuſammen und gehen in kleine Waldflecken über, die an den Seitenhängen emporklimmen. Rundliche Laubholzkuppeln miſchen ſich darunter, weißſchalige Birken leuchten von Weitem vereinzelt daraus hervor. Die ganze Pflanzendecke ſchwillt wieder an und gewinnt an Kraft, Höhe und Leben. Noch um eine Straßenecke herum, — und plötzlich öffnet ſich ein tiefausgedehnter Niederblick in das zu Füßen liegende Hauptthal. Die Bergkouliſſen ſchieben von beiden Seiten korreſpondirend ſich vor, immer matter nach dem Hintergrund zu erblauend. Dörfer, Weiler, ſchlanke Kirchthürme winken herauf, und wie ein großer Faden verbindet ſie die lange ſchmale Linie der Kunſtſtraße. Da hinab alſo gehts in das erſehnte Land der

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/133>, abgerufen am 04.05.2024.