Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Legföhren.
Schweiz am bezeichnendsten "Legföhre." Schon aus der Reich¬
haltigkeit dieser Nomenklatur läßt sich erkennen, daß die "Zwerg¬
kiefer" durch die ganzen Alpen verbreitet ist. Mit der Alpenerle
oder Droosle (Betula alnus viridis), ebenfalls einer Krüppel¬
form der eigentlichen Erle, beschließt sie den Holzwuchs im Gebirge.
Ob sie eine eigene Species oder eine blos durch Umstände cor¬
rumpirte Abart der eigentlichen Kiefer ist, darüber walten verschie¬
dene Meinungen.

Der Totaleindruck der Legföhre, der ganze Habitus ist ein
überraschender, höchst origineller; er giebt so recht ein, dem Cha¬
rakter des Hochgebirges entsprechendes, vegetabilisches Attribut ab.
Betrachtet man nur Holz und Astwerk, wie das sich krümmt und
rankt, und abenteuerliche, phantastische Gestalten formt. Bietet der
Astbau mancher anderer Bäume schon hin und wieder wunderliche
Figuren dar, so tritt doch bei ihnen immer mehr oder minder das
Innehalten einer kennzeichnenden Architektur, das Walten bestimm¬
ter, die Individuen und ihre Sippschaft kennzeichnenden Gesetze,
wenn auch oft in freier Anwendung, in der Stamm-, Ast- und
Zweigbildung hervor. Dies Alles verschwindet bei der Legföhre.
Allenthalben trägt sie das Gepräge des Unsymmetrischen, Be¬
schränkten, Gehemmten, Unterdrückten. Nur sklavisch windet sie
sich, wurmartig, unheimlich schlangenhaft, am Boden hin: seufzend,
aber dennoch mit unendlicher Zähigkeit, scheint sie ihr Leben zu
durchschleichen. Sie ist unter den Coniferen der vollendete Ge¬
gensatz zu der, allen gewaltsamen Druck überwindenden, siegreich
triumphirenden Wettertanne. Der Widerstand der Zwergkiefer ist
nur ein heimlicher, passiver, der blos an den gegen oben sich
krümmenden Wipfelenden zum Durchbruch, zur Geltendmachung sei¬
ner Rechte kommt. Trotz dieser leidenden Haltung haben die, meist
glatten, braunen Stämme etwas Mastiges, Fettes, während die
Rinde der gewöhnlichen Föhre rauh, mager, zerrissen ist und trocken
aussieht. Sehr lange bleiben die Blattnarben sichtbar.

Legföhren.
Schweiz am bezeichnendſten „Legföhre.“ Schon aus der Reich¬
haltigkeit dieſer Nomenklatur läßt ſich erkennen, daß die „Zwerg¬
kiefer“ durch die ganzen Alpen verbreitet iſt. Mit der Alpenerle
oder Droosle (Betula alnus viridis), ebenfalls einer Krüppel¬
form der eigentlichen Erle, beſchließt ſie den Holzwuchs im Gebirge.
Ob ſie eine eigene Species oder eine blos durch Umſtände cor¬
rumpirte Abart der eigentlichen Kiefer iſt, darüber walten verſchie¬
dene Meinungen.

Der Totaleindruck der Legföhre, der ganze Habitus iſt ein
überraſchender, höchſt origineller; er giebt ſo recht ein, dem Cha¬
rakter des Hochgebirges entſprechendes, vegetabiliſches Attribut ab.
Betrachtet man nur Holz und Aſtwerk, wie das ſich krümmt und
rankt, und abenteuerliche, phantaſtiſche Geſtalten formt. Bietet der
Aſtbau mancher anderer Bäume ſchon hin und wieder wunderliche
Figuren dar, ſo tritt doch bei ihnen immer mehr oder minder das
Innehalten einer kennzeichnenden Architektur, das Walten beſtimm¬
ter, die Individuen und ihre Sippſchaft kennzeichnenden Geſetze,
wenn auch oft in freier Anwendung, in der Stamm-, Aſt- und
Zweigbildung hervor. Dies Alles verſchwindet bei der Legföhre.
Allenthalben trägt ſie das Gepräge des Unſymmetriſchen, Be¬
ſchränkten, Gehemmten, Unterdrückten. Nur ſklaviſch windet ſie
ſich, wurmartig, unheimlich ſchlangenhaft, am Boden hin: ſeufzend,
aber dennoch mit unendlicher Zähigkeit, ſcheint ſie ihr Leben zu
durchſchleichen. Sie iſt unter den Coniferen der vollendete Ge¬
genſatz zu der, allen gewaltſamen Druck überwindenden, ſiegreich
triumphirenden Wettertanne. Der Widerſtand der Zwergkiefer iſt
nur ein heimlicher, paſſiver, der blos an den gegen oben ſich
krümmenden Wipfelenden zum Durchbruch, zur Geltendmachung ſei¬
ner Rechte kommt. Trotz dieſer leidenden Haltung haben die, meiſt
glatten, braunen Stämme etwas Maſtiges, Fettes, während die
Rinde der gewöhnlichen Föhre rauh, mager, zerriſſen iſt und trocken
ausſieht. Sehr lange bleiben die Blattnarben ſichtbar.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0117" n="91"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Legföhren</hi>.<lb/></fw>Schweiz am bezeichnend&#x017F;ten &#x201E;<hi rendition="#g">Legföhre</hi>.&#x201C; Schon aus der Reich¬<lb/>
haltigkeit die&#x017F;er Nomenklatur läßt &#x017F;ich erkennen, daß die &#x201E;Zwerg¬<lb/>
kiefer&#x201C; durch die ganzen Alpen verbreitet i&#x017F;t. Mit der <hi rendition="#g">Alpenerle</hi><lb/>
oder <hi rendition="#g">Droosle</hi> (<hi rendition="#aq">Betula alnus viridis</hi>), ebenfalls einer Krüppel¬<lb/>
form der eigentlichen Erle, be&#x017F;chließt &#x017F;ie den Holzwuchs im Gebirge.<lb/>
Ob &#x017F;ie eine eigene Species oder eine blos durch Um&#x017F;tände cor¬<lb/>
rumpirte Abart der eigentlichen Kiefer i&#x017F;t, darüber walten ver&#x017F;chie¬<lb/>
dene Meinungen.</p><lb/>
        <p>Der Totaleindruck der Legföhre, der ganze Habitus i&#x017F;t ein<lb/>
überra&#x017F;chender, höch&#x017F;t origineller; er giebt &#x017F;o recht ein, dem Cha¬<lb/>
rakter des Hochgebirges ent&#x017F;prechendes, vegetabili&#x017F;ches Attribut ab.<lb/>
Betrachtet man nur Holz und A&#x017F;twerk, wie das &#x017F;ich krümmt und<lb/>
rankt, und abenteuerliche, phanta&#x017F;ti&#x017F;che Ge&#x017F;talten formt. Bietet der<lb/>
A&#x017F;tbau mancher anderer Bäume &#x017F;chon hin und wieder wunderliche<lb/>
Figuren dar, &#x017F;o tritt doch bei ihnen immer mehr oder minder das<lb/>
Innehalten einer kennzeichnenden Architektur, das Walten be&#x017F;timm¬<lb/>
ter, die Individuen und ihre Sipp&#x017F;chaft kennzeichnenden Ge&#x017F;etze,<lb/>
wenn auch oft in freier Anwendung, in der Stamm-, A&#x017F;t- und<lb/>
Zweigbildung hervor. Dies Alles ver&#x017F;chwindet bei der Legföhre.<lb/>
Allenthalben trägt &#x017F;ie das Gepräge des Un&#x017F;ymmetri&#x017F;chen, Be¬<lb/>
&#x017F;chränkten, Gehemmten, Unterdrückten. Nur &#x017F;klavi&#x017F;ch windet &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich, wurmartig, unheimlich &#x017F;chlangenhaft, am Boden hin: &#x017F;eufzend,<lb/>
aber dennoch mit unendlicher Zähigkeit, &#x017F;cheint &#x017F;ie ihr Leben zu<lb/>
durch&#x017F;chleichen. Sie i&#x017F;t unter den Coniferen der vollendete Ge¬<lb/>
gen&#x017F;atz zu der, allen gewalt&#x017F;amen Druck überwindenden, &#x017F;iegreich<lb/>
triumphirenden Wettertanne. Der Wider&#x017F;tand der Zwergkiefer i&#x017F;t<lb/>
nur ein heimlicher, pa&#x017F;&#x017F;iver, der blos an den gegen oben &#x017F;ich<lb/>
krümmenden Wipfelenden zum Durchbruch, zur Geltendmachung &#x017F;ei¬<lb/>
ner Rechte kommt. Trotz die&#x017F;er leidenden Haltung haben die, mei&#x017F;t<lb/>
glatten, braunen Stämme etwas Ma&#x017F;tiges, Fettes, während die<lb/>
Rinde der gewöhnlichen Föhre rauh, mager, zerri&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t und trocken<lb/>
aus&#x017F;ieht. Sehr lange bleiben die Blattnarben &#x017F;ichtbar.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0117] Legföhren. Schweiz am bezeichnendſten „Legföhre.“ Schon aus der Reich¬ haltigkeit dieſer Nomenklatur läßt ſich erkennen, daß die „Zwerg¬ kiefer“ durch die ganzen Alpen verbreitet iſt. Mit der Alpenerle oder Droosle (Betula alnus viridis), ebenfalls einer Krüppel¬ form der eigentlichen Erle, beſchließt ſie den Holzwuchs im Gebirge. Ob ſie eine eigene Species oder eine blos durch Umſtände cor¬ rumpirte Abart der eigentlichen Kiefer iſt, darüber walten verſchie¬ dene Meinungen. Der Totaleindruck der Legföhre, der ganze Habitus iſt ein überraſchender, höchſt origineller; er giebt ſo recht ein, dem Cha¬ rakter des Hochgebirges entſprechendes, vegetabiliſches Attribut ab. Betrachtet man nur Holz und Aſtwerk, wie das ſich krümmt und rankt, und abenteuerliche, phantaſtiſche Geſtalten formt. Bietet der Aſtbau mancher anderer Bäume ſchon hin und wieder wunderliche Figuren dar, ſo tritt doch bei ihnen immer mehr oder minder das Innehalten einer kennzeichnenden Architektur, das Walten beſtimm¬ ter, die Individuen und ihre Sippſchaft kennzeichnenden Geſetze, wenn auch oft in freier Anwendung, in der Stamm-, Aſt- und Zweigbildung hervor. Dies Alles verſchwindet bei der Legföhre. Allenthalben trägt ſie das Gepräge des Unſymmetriſchen, Be¬ ſchränkten, Gehemmten, Unterdrückten. Nur ſklaviſch windet ſie ſich, wurmartig, unheimlich ſchlangenhaft, am Boden hin: ſeufzend, aber dennoch mit unendlicher Zähigkeit, ſcheint ſie ihr Leben zu durchſchleichen. Sie iſt unter den Coniferen der vollendete Ge¬ genſatz zu der, allen gewaltſamen Druck überwindenden, ſiegreich triumphirenden Wettertanne. Der Widerſtand der Zwergkiefer iſt nur ein heimlicher, paſſiver, der blos an den gegen oben ſich krümmenden Wipfelenden zum Durchbruch, zur Geltendmachung ſei¬ ner Rechte kommt. Trotz dieſer leidenden Haltung haben die, meiſt glatten, braunen Stämme etwas Maſtiges, Fettes, während die Rinde der gewöhnlichen Föhre rauh, mager, zerriſſen iſt und trocken ausſieht. Sehr lange bleiben die Blattnarben ſichtbar.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/117
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/117>, abgerufen am 22.11.2024.