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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864.

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Ikegami. V.

Am Rande dieser Ebene liegt das Dorf Ikegami unter einer
dicht bewachsenen Anhöhe. Oben steht zwischen mächtigen Bäumen
ein grosser Tempel mit vielen Nebengebäuden und seitwärts davon
das mehrstöckige Mausoleum eines Taikun mit anderen Grab-
monumenten der Familie Minamoto; der Ort ist grün und schattig.
Unten im Dorfe führt eine breite Strasse auf das erste am Fusse
des Hügels gelegene Thor zu, daneben steht ein hoher inscribirter
Denkstein und eine Gebetsäule. Man überschreitet eine Brücke und
steigt dann die hohe von dichten Baumwipfeln beschattete Treppen-
flucht -- mehrere hundert Stufen -- zu dem zweistöckigen Haupt-
portal hinan, das sich auf einen breiten Platz öffnet. Die gegen-
überliegende Seite nimmt der Tempel selbst ein, rechts und links
liegen kleinere Gebäude von reicher Holzarchitectur, darunter das
Glockenhaus, eine offene von geneigten Holzsäulen getragene Halle,
in deren Mitte die reichverzierte Glocke hängt. Sie hat keinen
Klöpfel, sondern wird vermittelst eines in wagerechter Schwebe an
Ketten aufgehängten Holzbalkens angeschlagen, den man nach Art
der antiken Mauerbrecher zurückzieht und dann loslässt; dieses
Gerüst steht ausserhalb hinter dem Glockenhause. Auch kleinere
Glocken werden in Japan mit hölzernem Hammer geschlagen, nie-
mals mit metallenem Klöpfel; der so erzeugte Klang ist nicht so
hell, aber voller, weicher und nachhaltiger als bei unseren Glocken.

Als wir den Tempelgrund von Ikegami zum ersten Male
besuchten, eilten die Bonzen herbei und zogen Seile über die Wege
zu den geheiligten Grabstätten, zeigten sich aber sonst freundlich
und dienstfertig. Die ganze Dorfbevölkerung kam herauf, die Kinder
stürzten sich auf die Seile der muschelförmigen Gongs über den
Tempelthüren und begannen aus Leibeskräften zu läuten; der Jubel
wollte kein Ende nehmen als der Gesandte blanke Metallknöpfe,
welche die Japaner sehr lieben, unter die Menge auswarf. -- Der
Tempel selbst war verschlossen; hinter demselben liegt ein weit-
läufiges Gebäude, die Wohnung der zahlreichen Priester, welche
bei späteren Besuchen viel zugänglicher wurden; doch bedurfte es
einer besonderen Erlaubniss der Regierung, um hier photographiren
und zeichnen zu dürfen. -- Die dichten Gehölze der ausgedehnten
Anlage bestehen aus Tannen, Cryptomerien und anderen Nadelhöl-
zern; die hochstrebenden Stämme bilden düstere Alleen, aus denen
man seitwärts im schattigen Gebüsch Grabmonumente von schönem
Bronzeguss gewahrt; die Stimmung ist ernst und feierlich. Der

Ikegami. V.

Am Rande dieser Ebene liegt das Dorf Ikegami unter einer
dicht bewachsenen Anhöhe. Oben steht zwischen mächtigen Bäumen
ein grosser Tempel mit vielen Nebengebäuden und seitwärts davon
das mehrstöckige Mausoleum eines Taïkūn mit anderen Grab-
monumenten der Familie Minamoto; der Ort ist grün und schattig.
Unten im Dorfe führt eine breite Strasse auf das erste am Fusse
des Hügels gelegene Thor zu, daneben steht ein hoher inscribirter
Denkstein und eine Gebetsäule. Man überschreitet eine Brücke und
steigt dann die hohe von dichten Baumwipfeln beschattete Treppen-
flucht — mehrere hundert Stufen — zu dem zweistöckigen Haupt-
portal hinan, das sich auf einen breiten Platz öffnet. Die gegen-
überliegende Seite nimmt der Tempel selbst ein, rechts und links
liegen kleinere Gebäude von reicher Holzarchitectur, darunter das
Glockenhaus, eine offene von geneigten Holzsäulen getragene Halle,
in deren Mitte die reichverzierte Glocke hängt. Sie hat keinen
Klöpfel, sondern wird vermittelst eines in wagerechter Schwebe an
Ketten aufgehängten Holzbalkens angeschlagen, den man nach Art
der antiken Mauerbrecher zurückzieht und dann loslässt; dieses
Gerüst steht ausserhalb hinter dem Glockenhause. Auch kleinere
Glocken werden in Japan mit hölzernem Hammer geschlagen, nie-
mals mit metallenem Klöpfel; der so erzeugte Klang ist nicht so
hell, aber voller, weicher und nachhaltiger als bei unseren Glocken.

Als wir den Tempelgrund von Ikegami zum ersten Male
besuchten, eilten die Bonzen herbei und zogen Seile über die Wege
zu den geheiligten Grabstätten, zeigten sich aber sonst freundlich
und dienstfertig. Die ganze Dorfbevölkerung kam herauf, die Kinder
stürzten sich auf die Seile der muschelförmigen Gongs über den
Tempelthüren und begannen aus Leibeskräften zu läuten; der Jubel
wollte kein Ende nehmen als der Gesandte blanke Metallknöpfe,
welche die Japaner sehr lieben, unter die Menge auswarf. — Der
Tempel selbst war verschlossen; hinter demselben liegt ein weit-
läufiges Gebäude, die Wohnung der zahlreichen Priester, welche
bei späteren Besuchen viel zugänglicher wurden; doch bedurfte es
einer besonderen Erlaubniss der Regierung, um hier photographiren
und zeichnen zu dürfen. — Die dichten Gehölze der ausgedehnten
Anlage bestehen aus Tannen, Cryptomerien und anderen Nadelhöl-
zern; die hochstrebenden Stämme bilden düstere Alleen, aus denen
man seitwärts im schattigen Gebüsch Grabmonumente von schönem
Bronzeguss gewahrt; die Stimmung ist ernst und feierlich. Der

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[336/0366] Ikegami. V. Am Rande dieser Ebene liegt das Dorf Ikegami unter einer dicht bewachsenen Anhöhe. Oben steht zwischen mächtigen Bäumen ein grosser Tempel mit vielen Nebengebäuden und seitwärts davon das mehrstöckige Mausoleum eines Taïkūn mit anderen Grab- monumenten der Familie Minamoto; der Ort ist grün und schattig. Unten im Dorfe führt eine breite Strasse auf das erste am Fusse des Hügels gelegene Thor zu, daneben steht ein hoher inscribirter Denkstein und eine Gebetsäule. Man überschreitet eine Brücke und steigt dann die hohe von dichten Baumwipfeln beschattete Treppen- flucht — mehrere hundert Stufen — zu dem zweistöckigen Haupt- portal hinan, das sich auf einen breiten Platz öffnet. Die gegen- überliegende Seite nimmt der Tempel selbst ein, rechts und links liegen kleinere Gebäude von reicher Holzarchitectur, darunter das Glockenhaus, eine offene von geneigten Holzsäulen getragene Halle, in deren Mitte die reichverzierte Glocke hängt. Sie hat keinen Klöpfel, sondern wird vermittelst eines in wagerechter Schwebe an Ketten aufgehängten Holzbalkens angeschlagen, den man nach Art der antiken Mauerbrecher zurückzieht und dann loslässt; dieses Gerüst steht ausserhalb hinter dem Glockenhause. Auch kleinere Glocken werden in Japan mit hölzernem Hammer geschlagen, nie- mals mit metallenem Klöpfel; der so erzeugte Klang ist nicht so hell, aber voller, weicher und nachhaltiger als bei unseren Glocken. Als wir den Tempelgrund von Ikegami zum ersten Male besuchten, eilten die Bonzen herbei und zogen Seile über die Wege zu den geheiligten Grabstätten, zeigten sich aber sonst freundlich und dienstfertig. Die ganze Dorfbevölkerung kam herauf, die Kinder stürzten sich auf die Seile der muschelförmigen Gongs über den Tempelthüren und begannen aus Leibeskräften zu läuten; der Jubel wollte kein Ende nehmen als der Gesandte blanke Metallknöpfe, welche die Japaner sehr lieben, unter die Menge auswarf. — Der Tempel selbst war verschlossen; hinter demselben liegt ein weit- läufiges Gebäude, die Wohnung der zahlreichen Priester, welche bei späteren Besuchen viel zugänglicher wurden; doch bedurfte es einer besonderen Erlaubniss der Regierung, um hier photographiren und zeichnen zu dürfen. — Die dichten Gehölze der ausgedehnten Anlage bestehen aus Tannen, Cryptomerien und anderen Nadelhöl- zern; die hochstrebenden Stämme bilden düstere Alleen, aus denen man seitwärts im schattigen Gebüsch Grabmonumente von schönem Bronzeguss gewahrt; die Stimmung ist ernst und feierlich. Der

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien01_1864/366>, abgerufen am 22.11.2024.