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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864.

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Criminaljustiz. Strafen.
Buchstaben des Gesetzes und eigentliche Rechtsinterpretationen kennt
und begreift man nicht; trotzdem soll die Praxis der Rechtspflege
in Folge der durch den langen Frieden geläuterten Sitten und An-
schauungen sehr milde geworden sein. Die Folter, deren Anwen-
dung die alte Gesetzgebung in Criminalfällen bei jedem Leugnen
gebietet, wird jetzt nur gegen überführte Verbrecher gebraucht,
welche nicht gestehen wollen. Geringe Vergehen, die den alten
Gesetzen nach sehr hart bestraft werden müssten, lässt man schon
der allgemeinen Mitverantwortlichkeit wegen gern unbeachtet oder
bemüht sich, sie unter andere minder straffällige Benennungen zu
bringen. Wenn es unmöglich ist, einen Angeklagten zu überführen,
so soll der Richter nach Beweisen für seine Unschuld forschen,
um ihn vollständig zu rechtfertigen. -- Sehr streng und gradezu
barbarisch scheint noch heute die Praxis gegen die Lehnsfürsten
und gegen hochgestellte Beamte zu sein: sie werden nicht nur für
das verantwortlich gemacht, was ihre Schuld oder Nachlässigkeit
verfehlt, sondern müssen oft für ganz unverschuldetes und unver-
meidliches Unglück, das ihre Verwaltung betroffen hat, die härtesten
Strafen dulden. Dies hängt wieder mit der ostasiatischen Anschauung
von der Verantwortlichkeit der Herrschenden zusammen.

Die gewöhnlichen Strafen sind Hinrichtung, Verbannung,
Gefängniss. Die Todesstrafe steht schon auf Diebstähle von ge-
ringem Belang und wird meist durch das Schwert vollzogen 128),
schwere Verbrechen ahndet man mit Kreuzigung und anderen
martervollen Todesarten. Die Hinrichtung durch Henkershand ist
immer entehrend, nicht nur für den, an welchem sie vollzogen wird,
sondern für dessen ganze Familie; seine Nachkommen sind unfähig,
in seine durch Geburt ererbten Rechte einzutreten. Es ist daher
eine Gnade des Siogun, wenn er Leuten von Stande, die das
Leben verwirkt haben, das Harakiru befiehlt: dann bleiben ihre
Verwandten und Nachkommen in Ehren. Meistens kommen in
solchen Fällen die Schuldigen der Strafe durch freiwillige Selbst-
entleibung zuvor, wodurch ihr Vergehen ebenfalls gesühnt wird.
Das Volk scheint keinen Antheil an dieser Wohlthat zu haben; die
Leichname von Verbrechern der niederen Stände, die sich den Tod
gegeben, werden häufig in die Hände des Henkers geliefert, und
eingesalzen noch an das Kreuz geschlagen.


128) Früher wurde jede Lüge vor der Obrigkeit mit dem Tode bestraft.
S. Caron.

Criminaljustiz. Strafen.
Buchstaben des Gesetzes und eigentliche Rechtsinterpretationen kennt
und begreift man nicht; trotzdem soll die Praxis der Rechtspflege
in Folge der durch den langen Frieden geläuterten Sitten und An-
schauungen sehr milde geworden sein. Die Folter, deren Anwen-
dung die alte Gesetzgebung in Criminalfällen bei jedem Leugnen
gebietet, wird jetzt nur gegen überführte Verbrecher gebraucht,
welche nicht gestehen wollen. Geringe Vergehen, die den alten
Gesetzen nach sehr hart bestraft werden müssten, lässt man schon
der allgemeinen Mitverantwortlichkeit wegen gern unbeachtet oder
bemüht sich, sie unter andere minder straffällige Benennungen zu
bringen. Wenn es unmöglich ist, einen Angeklagten zu überführen,
so soll der Richter nach Beweisen für seine Unschuld forschen,
um ihn vollständig zu rechtfertigen. — Sehr streng und gradezu
barbarisch scheint noch heute die Praxis gegen die Lehnsfürsten
und gegen hochgestellte Beamte zu sein: sie werden nicht nur für
das verantwortlich gemacht, was ihre Schuld oder Nachlässigkeit
verfehlt, sondern müssen oft für ganz unverschuldetes und unver-
meidliches Unglück, das ihre Verwaltung betroffen hat, die härtesten
Strafen dulden. Dies hängt wieder mit der ostasiatischen Anschauung
von der Verantwortlichkeit der Herrschenden zusammen.

Die gewöhnlichen Strafen sind Hinrichtung, Verbannung,
Gefängniss. Die Todesstrafe steht schon auf Diebstähle von ge-
ringem Belang und wird meist durch das Schwert vollzogen 128),
schwere Verbrechen ahndet man mit Kreuzigung und anderen
martervollen Todesarten. Die Hinrichtung durch Henkershand ist
immer entehrend, nicht nur für den, an welchem sie vollzogen wird,
sondern für dessen ganze Familie; seine Nachkommen sind unfähig,
in seine durch Geburt ererbten Rechte einzutreten. Es ist daher
eine Gnade des Siogun, wenn er Leuten von Stande, die das
Leben verwirkt haben, das Harakiru befiehlt: dann bleiben ihre
Verwandten und Nachkommen in Ehren. Meistens kommen in
solchen Fällen die Schuldigen der Strafe durch freiwillige Selbst-
entleibung zuvor, wodurch ihr Vergehen ebenfalls gesühnt wird.
Das Volk scheint keinen Antheil an dieser Wohlthat zu haben; die
Leichname von Verbrechern der niederen Stände, die sich den Tod
gegeben, werden häufig in die Hände des Henkers geliefert, und
eingesalzen noch an das Kreuz geschlagen.


128) Früher wurde jede Lüge vor der Obrigkeit mit dem Tode bestraft.
S. Caron.
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[126/0156] Criminaljustiz. Strafen. Buchstaben des Gesetzes und eigentliche Rechtsinterpretationen kennt und begreift man nicht; trotzdem soll die Praxis der Rechtspflege in Folge der durch den langen Frieden geläuterten Sitten und An- schauungen sehr milde geworden sein. Die Folter, deren Anwen- dung die alte Gesetzgebung in Criminalfällen bei jedem Leugnen gebietet, wird jetzt nur gegen überführte Verbrecher gebraucht, welche nicht gestehen wollen. Geringe Vergehen, die den alten Gesetzen nach sehr hart bestraft werden müssten, lässt man schon der allgemeinen Mitverantwortlichkeit wegen gern unbeachtet oder bemüht sich, sie unter andere minder straffällige Benennungen zu bringen. Wenn es unmöglich ist, einen Angeklagten zu überführen, so soll der Richter nach Beweisen für seine Unschuld forschen, um ihn vollständig zu rechtfertigen. — Sehr streng und gradezu barbarisch scheint noch heute die Praxis gegen die Lehnsfürsten und gegen hochgestellte Beamte zu sein: sie werden nicht nur für das verantwortlich gemacht, was ihre Schuld oder Nachlässigkeit verfehlt, sondern müssen oft für ganz unverschuldetes und unver- meidliches Unglück, das ihre Verwaltung betroffen hat, die härtesten Strafen dulden. Dies hängt wieder mit der ostasiatischen Anschauung von der Verantwortlichkeit der Herrschenden zusammen. Die gewöhnlichen Strafen sind Hinrichtung, Verbannung, Gefängniss. Die Todesstrafe steht schon auf Diebstähle von ge- ringem Belang und wird meist durch das Schwert vollzogen 128), schwere Verbrechen ahndet man mit Kreuzigung und anderen martervollen Todesarten. Die Hinrichtung durch Henkershand ist immer entehrend, nicht nur für den, an welchem sie vollzogen wird, sondern für dessen ganze Familie; seine Nachkommen sind unfähig, in seine durch Geburt ererbten Rechte einzutreten. Es ist daher eine Gnade des Siogun, wenn er Leuten von Stande, die das Leben verwirkt haben, das Harakiru befiehlt: dann bleiben ihre Verwandten und Nachkommen in Ehren. Meistens kommen in solchen Fällen die Schuldigen der Strafe durch freiwillige Selbst- entleibung zuvor, wodurch ihr Vergehen ebenfalls gesühnt wird. Das Volk scheint keinen Antheil an dieser Wohlthat zu haben; die Leichname von Verbrechern der niederen Stände, die sich den Tod gegeben, werden häufig in die Hände des Henkers geliefert, und eingesalzen noch an das Kreuz geschlagen. 128) Früher wurde jede Lüge vor der Obrigkeit mit dem Tode bestraft. S. Caron.

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien01_1864/156>, abgerufen am 03.05.2024.