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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Nur noch stärkere Bekräftigung erhält diese Auffassung durch die jenem pba_068.002
Satze hinzugefügte Schlußfolgerung, daß der Sänger "nach Belieben die pba_068.003
Formen wechselnd" "sich aller drei Grundarten der Poesie bedienen" pba_068.004
könne, "um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, pba_068.005
den Geist beschäftigen soll"; damit ist deutlich ausgesprochen, daß sowohl pba_068.006
der lyrische Ausdruck einzelner Empfindungen als die epische oder dramatische pba_068.007
Darstellung äußerer Handlungen in der Ballade nur als Mittel pba_068.008
verwandt werden, um etwas Drittes, "was der Sänger tief im Sinne pba_068.009
hat", und was er auch bei den Zuhörern nachahmend hervorbringen pba_068.010
will, darzustellen: das Ethos, womit sein Stoff ihn erfüllt.

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Was die Volksballade mit naiver Sicherheit überall leistet, die Verflüchtigung pba_068.012
des stofflichen Jnteresses der Handlung zu Gunsten des pba_068.013
ethischen, erfordert also von seiten des Dichters die Aufbietung seiner pba_068.014
höchsten Kunst. So ist denn auch die Zahl der in diesem Sinne als pba_068.015
den Forderungen der Gattung völlig entsprechend zu bezeichnenden pba_068.016
Dichtungen eine sehr kleine; in manchen Fällen wird es freilich schwer pba_068.017
sein die Grenze mit Sicherheit zu bestimmen, wo der Balladencharakter pba_068.018
aufhört und dafür der der poetischen Erzählung eintritt, denn daß auch pba_068.019
in dieser eine einheitliche Stimmung festgehalten werden kann, ist unbestreitbar. pba_068.020
Nur hüte man sich den moralischen Gehalt eines pba_068.021
solchen Stückes mit dem ethischen Jnhalte desselben zu verwechseln! pba_068.022
Der Unterschied ist groß und in die Augen springend, und so günstig pba_068.023
dieser dem Sangestone ist, so unverträglich mit demselben ist die moralische pba_068.024
Tendenz, auch wenn sie durchaus nicht etwa nur äußerlich der pba_068.025
Erzählung angefügt ist, sondern selbst dann, wenn sie als die Seele der pba_068.026
Handlung die Erzählung leitend bestimmt. Man halte Gedichte wie pba_068.027
Goethes Lied "Vom vertriebenen Grafen" oder "Der untreue Knabe" pba_068.028
neben die "Bürgschaft" oder den "Ring des Polykrates", und das Urteil pba_068.029
kann für niemanden zweifelhaft sein. Strophen wie diese:

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"Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht, pba_068.031
Ein Retter, willkommen erscheinen, pba_068.032
So soll mich der Tod ihm vereinen. pba_068.033
Deß rühme der blut'ge Tyrann sich nicht, pba_068.034
Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht, pba_068.035
Er schlachte der Opfer zweie pba_068.036
Und glaube an Liebe und Treue."
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und dann die Schlußstrophe:

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Und zum Könige bringt man die Wundermär', pba_068.039
Der fühlt ein menschliches Rühren, pba_068.040
Läßt schnell vor den Thron sie führen.

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Nur noch stärkere Bekräftigung erhält diese Auffassung durch die jenem pba_068.002
Satze hinzugefügte Schlußfolgerung, daß der Sänger „nach Belieben die pba_068.003
Formen wechselnd“ „sich aller drei Grundarten der Poesie bedienen“ pba_068.004
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den Geist beschäftigen soll“; damit ist deutlich ausgesprochen, daß sowohl pba_068.006
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hat“, und was er auch bei den Zuhörern nachahmend hervorbringen pba_068.010
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Was die Volksballade mit naiver Sicherheit überall leistet, die Verflüchtigung pba_068.012
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Der Unterschied ist groß und in die Augen springend, und so günstig pba_068.023
dieser dem Sangestone ist, so unverträglich mit demselben ist die moralische pba_068.024
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Erzählung angefügt ist, sondern selbst dann, wenn sie als die Seele der pba_068.026
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Goethes Lied „Vom vertriebenen Grafen“ oder „Der untreue Knabe“ pba_068.028
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kann für niemanden zweifelhaft sein. Strophen wie diese:

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„Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht, pba_068.031
Ein Retter, willkommen erscheinen, pba_068.032
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Und zum Könige bringt man die Wundermär', pba_068.039
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[68/0086] pba_068.001 Nur noch stärkere Bekräftigung erhält diese Auffassung durch die jenem pba_068.002 Satze hinzugefügte Schlußfolgerung, daß der Sänger „nach Belieben die pba_068.003 Formen wechselnd“ „sich aller drei Grundarten der Poesie bedienen“ pba_068.004 könne, „um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, pba_068.005 den Geist beschäftigen soll“; damit ist deutlich ausgesprochen, daß sowohl pba_068.006 der lyrische Ausdruck einzelner Empfindungen als die epische oder dramatische pba_068.007 Darstellung äußerer Handlungen in der Ballade nur als Mittel pba_068.008 verwandt werden, um etwas Drittes, „was der Sänger tief im Sinne pba_068.009 hat“, und was er auch bei den Zuhörern nachahmend hervorbringen pba_068.010 will, darzustellen: das Ethos, womit sein Stoff ihn erfüllt. pba_068.011 Was die Volksballade mit naiver Sicherheit überall leistet, die Verflüchtigung pba_068.012 des stofflichen Jnteresses der Handlung zu Gunsten des pba_068.013 ethischen, erfordert also von seiten des Dichters die Aufbietung seiner pba_068.014 höchsten Kunst. So ist denn auch die Zahl der in diesem Sinne als pba_068.015 den Forderungen der Gattung völlig entsprechend zu bezeichnenden pba_068.016 Dichtungen eine sehr kleine; in manchen Fällen wird es freilich schwer pba_068.017 sein die Grenze mit Sicherheit zu bestimmen, wo der Balladencharakter pba_068.018 aufhört und dafür der der poetischen Erzählung eintritt, denn daß auch pba_068.019 in dieser eine einheitliche Stimmung festgehalten werden kann, ist unbestreitbar. pba_068.020 Nur hüte man sich den moralischen Gehalt eines pba_068.021 solchen Stückes mit dem ethischen Jnhalte desselben zu verwechseln! pba_068.022 Der Unterschied ist groß und in die Augen springend, und so günstig pba_068.023 dieser dem Sangestone ist, so unverträglich mit demselben ist die moralische pba_068.024 Tendenz, auch wenn sie durchaus nicht etwa nur äußerlich der pba_068.025 Erzählung angefügt ist, sondern selbst dann, wenn sie als die Seele der pba_068.026 Handlung die Erzählung leitend bestimmt. Man halte Gedichte wie pba_068.027 Goethes Lied „Vom vertriebenen Grafen“ oder „Der untreue Knabe“ pba_068.028 neben die „Bürgschaft“ oder den „Ring des Polykrates“, und das Urteil pba_068.029 kann für niemanden zweifelhaft sein. Strophen wie diese: pba_068.030 „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht, pba_068.031 Ein Retter, willkommen erscheinen, pba_068.032 So soll mich der Tod ihm vereinen. pba_068.033 Deß rühme der blut'ge Tyrann sich nicht, pba_068.034 Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht, pba_068.035 Er schlachte der Opfer zweie pba_068.036 Und glaube an Liebe und Treue.“ pba_068.037 und dann die Schlußstrophe: pba_068.038 Und zum Könige bringt man die Wundermär', pba_068.039 Der fühlt ein menschliches Rühren, pba_068.040 Läßt schnell vor den Thron sie führen.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/86>, abgerufen am 22.11.2024.