pba_718.001 die Triebfeder der sittlichen Gesinnung muß von aller sinnlichen Bedingung pba_718.002 frei sein. Vielmehr ist das sinnliche Gefühl, das allen unsern pba_718.003 Neigungen zum Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigen pba_718.004 Empfindung, die wir Achtung nennen, aber die Ursache der pba_718.005 Bestimmung desselben liegt in der reinen praktischen Vernunft,pba_718.006 und diese Empfindung kann daher, ihres Ursprungs wegen, nicht pba_718.007 pathologisch, sondern muß praktisch gewirkt heißen."1 Wer pba_718.008 wollte das leugnen, Aristoteles gewiß am allerwenigsten!
pba_718.009 Aber die Frage ist eine ganz andere, ob, nachdem die Bestimmung pba_718.010 des Gefühls durch die praktische Vernunft einmal pba_718.011 stattgefunden hat, das so modifizierte Gefühlsvermögen nun nicht pba_718.012 imstande sein soll, sich als solches fernerhin selbständig zu bethätigen?pba_718.013 Die kritische Scheidung der Seelenvermögen kann doch nur pba_718.014 in abstracto vorgenommen werden; in Wirklichkeit sind sie im "Gemüt" pba_718.015 aufs innigste vereinigt, und wie die Vernunft überhaupt pba_718.016 nicht in Thätigkeit und zur Entwickelung gelangen könnte, außer indem pba_718.017 die Gefühle und Neigungen den Anlaß dazu geben, so kann nun die pba_718.018 solchergestalt vor sich gehende Entwickelung des Vernunftvermögens nicht pba_718.019 stattfinden, ohne daß rückwirkend in der Art und Weise der Gefühle, pba_718.020 sich zu bethätigen, eine große Veränderung geschehe: daß das im Beginn pba_718.021 "vernunftlose" Gefühlsvermögen zu einer mehr oder minder pba_718.022 vollständigen Übereinstimmung mit den Gesetzen des Verstandes pba_718.023 oder der Vernunft erzogen und an sich selbst gewöhnt werde. Die Erfahrung pba_718.024 aber verlangt, daß hier noch mehr zugegeben werden muß, als pba_718.025 auf irgend eine Weise bewiesen werden könnte! Alle Naturanlage der pba_718.026 menschlichen Seele ist nach der Art ihrer Entstehung ein undurchdringliches pba_718.027 Geheimnis: nun ist es aber eine erfahrungsmäßig unbestrittene pba_718.028 Thatsache, daß die Anlage (dunamis) des Gefühlsvermögens bei den pba_718.029 Menschen in Bezug auf Zahl, Art und Grad der Gefühle, zu denen sie pba_718.030 "von Natur geneigt" sind, eine sehr verschiedene ist; daß es, um alle pba_718.031 übrigen zu übergehen, einige Menschen gibt, in denen von Natur eine pba_718.032 fast allseitige Anlage vorhanden ist, die gesamte Zahl der verschiedenartigen pba_718.033 Gattungen der Gefühle in sich zu bethätigen, und zwar so, daß pba_718.034 die Natur selbst in sie die Neigung gelegt hat, dieselben in einer Weise pba_718.035 zu bethätigen, die den Forderungen des Verstandes und der Vernunft pba_718.036 auf mehr als halbem Wege entgegenkommt, ja in seltenen Fällen pba_718.037 irrige Forderungen derselben mit unwiderstehlicher Autorität pba_718.038 zu berichtigen.
1pba_718.039 S. VIII, S. 200.
pba_718.001 die Triebfeder der sittlichen Gesinnung muß von aller sinnlichen Bedingung pba_718.002 frei sein. Vielmehr ist das sinnliche Gefühl, das allen unsern pba_718.003 Neigungen zum Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigen pba_718.004 Empfindung, die wir Achtung nennen, aber die Ursache der pba_718.005 Bestimmung desselben liegt in der reinen praktischen Vernunft,pba_718.006 und diese Empfindung kann daher, ihres Ursprungs wegen, nicht pba_718.007 pathologisch, sondern muß praktisch gewirkt heißen.“1 Wer pba_718.008 wollte das leugnen, Aristoteles gewiß am allerwenigsten!
pba_718.009 Aber die Frage ist eine ganz andere, ob, nachdem die Bestimmung pba_718.010 des Gefühls durch die praktische Vernunft einmal pba_718.011 stattgefunden hat, das so modifizierte Gefühlsvermögen nun nicht pba_718.012 imstande sein soll, sich als solches fernerhin selbständig zu bethätigen?pba_718.013 Die kritische Scheidung der Seelenvermögen kann doch nur pba_718.014 in abstracto vorgenommen werden; in Wirklichkeit sind sie im „Gemüt“ pba_718.015 aufs innigste vereinigt, und wie die Vernunft überhaupt pba_718.016 nicht in Thätigkeit und zur Entwickelung gelangen könnte, außer indem pba_718.017 die Gefühle und Neigungen den Anlaß dazu geben, so kann nun die pba_718.018 solchergestalt vor sich gehende Entwickelung des Vernunftvermögens nicht pba_718.019 stattfinden, ohne daß rückwirkend in der Art und Weise der Gefühle, pba_718.020 sich zu bethätigen, eine große Veränderung geschehe: daß das im Beginn pba_718.021 „vernunftlose“ Gefühlsvermögen zu einer mehr oder minder pba_718.022 vollständigen Übereinstimmung mit den Gesetzen des Verstandes pba_718.023 oder der Vernunft erzogen und an sich selbst gewöhnt werde. Die Erfahrung pba_718.024 aber verlangt, daß hier noch mehr zugegeben werden muß, als pba_718.025 auf irgend eine Weise bewiesen werden könnte! Alle Naturanlage der pba_718.026 menschlichen Seele ist nach der Art ihrer Entstehung ein undurchdringliches pba_718.027 Geheimnis: nun ist es aber eine erfahrungsmäßig unbestrittene pba_718.028 Thatsache, daß die Anlage (δύναμις) des Gefühlsvermögens bei den pba_718.029 Menschen in Bezug auf Zahl, Art und Grad der Gefühle, zu denen sie pba_718.030 „von Natur geneigt“ sind, eine sehr verschiedene ist; daß es, um alle pba_718.031 übrigen zu übergehen, einige Menschen gibt, in denen von Natur eine pba_718.032 fast allseitige Anlage vorhanden ist, die gesamte Zahl der verschiedenartigen pba_718.033 Gattungen der Gefühle in sich zu bethätigen, und zwar so, daß pba_718.034 die Natur selbst in sie die Neigung gelegt hat, dieselben in einer Weise pba_718.035 zu bethätigen, die den Forderungen des Verstandes und der Vernunft pba_718.036 auf mehr als halbem Wege entgegenkommt, ja in seltenen Fällen pba_718.037 irrige Forderungen derselben mit unwiderstehlicher Autorität pba_718.038 zu berichtigen.
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Aber die Frage ist eine ganz andere, ob, nachdem die Bestimmung pba_718.010
des Gefühls durch die praktische Vernunft einmal pba_718.011
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die Natur selbst in sie die Neigung gelegt hat, dieselben in einer Weise pba_718.035
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 718. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/736>, abgerufen am 22.11.2024.
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