pba_644.001 Anforderungen des Tragischen. Gewandte Rhetorik und ein gewisser pba_644.002 Schimmer und Schmuck der Diktion ist alles, was man ihm nachrühmen pba_644.003 kann. Die bloße Jnhaltserzählung kann als Beweis genügen, daß pba_644.004 Euripides in dieser angeblichen Tragödie das Unerhörte an Verhöhnung pba_644.005 aller ihrer Gesetze geleistet hat.
pba_644.006 Ägisthos, der einen Preis auf den Kopf des Orestes gesetzt hat, pba_644.007 wollte auch Elektra töten; Klytämnestra, die nicht so schlimm war wie pba_644.008 er, "denn einen Vorwand hatte sie beim Gattenmord", rettet die Tochter. pba_644.009 Um sie aber unschädlich zu machen, verheiratete man sie an einen pba_644.010 mykenischen Bauern, einen redlichen Mann jedoch, der teils aus "Tugend", pba_644.011 teils freilich aus kluger Vorsicht in ihr die königliche Jungfrau respektiert, pba_644.012 denn Orestes, wenn er doch einmal heimkehrte, würde ihm übel pba_644.013 mitspielen, fände er ihn wirklich als seinen Schwager. Elektra tritt pba_644.014 auf, durch armseligen Aufzug Mitleid erregend, auch in wortreichen pba_644.015 Klagen sich ergießend, aber in friedlicher, dankbar frommer Fassung sich pba_644.016 in ihr Los schickend. Sie dankt dem "Freunde" für seine zarte pba_644.017 Schonung und verheißt ihm, die Last der häuslichen Arbeit auch fernerhin pba_644.018 gemeinsam mit ihm zu tragen, "im Hause muß ich alles ordnen; kommt pba_644.019 der Tagelöhner heim, so freut er sich, es innen wohlbestellt zu sehn." pba_644.020 Jn gleicher idyllischer Stimmung erwidert er mit Sentenzen besonnener pba_644.021 Weisheit. -- Orestes erscheint mit Pylades und exponiert in poetisch pba_644.022 geschmückter Rede seine Absicht, um sich dann, da Elektra zurückkehrt, pba_644.023 im Gebüsch zu verbergen, während jene ein längeres, wohlgesetztes pba_644.024 Klagelied singt. Ganz äußerlich motiviert tritt der Chor mykenischer pba_644.025 Landfrauen auf, um Elektra zu einem Fest der Hera zu laden; er mahnt pba_644.026 sie von ihrem Klagen ab und empfiehlt ihr das Gebet zu den Göttern. pba_644.027 Orestes tritt nun hervor und unterrichtet sich in ausführlicher Weise pba_644.028 im Gespräch mit Elektra über alle Vorgänge im elterlichen Hause, wobei pba_644.029 der Chor ohne den geringsten Anteil assistiert. Obwohl Elektra die pba_644.030 Frauen als unbedingt ergeben und verschwiegen rühmt, zögert Orestes pba_644.031 doch sich ihr zu entdecken. Wie genrehaft die Behandlung des alten pba_644.032 heroischen Sagenstoffes durchweg gehalten ist, dafür statt vieler Proben pba_644.033 ein einziges Zeugnis! Der Landmann erblickt heimkehrend die Männer pba_644.034 im Gespräch mit der ihm vermählten Elektra: "Ha! welche Fremden pba_644.035 seh ich hier an meiner Thür?" ruft er aus. "Dem Weibe bringt's Unehre, pba_644.036 so mit jungen Männern dazustehn." Und Elektra: "Mein Liebster, pba_644.037 sei doch meinetwegen unbesorgt! Du sollst die Wahrheit hören u. s. f." pba_644.038 Jn dieser Situation nun hält Orestes den Umstehenden eine lange pba_644.039 Rede von mehr als dreißig wohlgefeilten Versen -- worüber? Über die pba_644.040 echte Tugend des wahren Biedermannes! Hängt sie vom Gelde
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pba_644.006 Ägisthos, der einen Preis auf den Kopf des Orestes gesetzt hat, pba_644.007 wollte auch Elektra töten; Klytämnestra, die nicht so schlimm war wie pba_644.008 er, „denn einen Vorwand hatte sie beim Gattenmord“, rettet die Tochter. pba_644.009 Um sie aber unschädlich zu machen, verheiratete man sie an einen pba_644.010 mykenischen Bauern, einen redlichen Mann jedoch, der teils aus „Tugend“, pba_644.011 teils freilich aus kluger Vorsicht in ihr die königliche Jungfrau respektiert, pba_644.012 denn Orestes, wenn er doch einmal heimkehrte, würde ihm übel pba_644.013 mitspielen, fände er ihn wirklich als seinen Schwager. Elektra tritt pba_644.014 auf, durch armseligen Aufzug Mitleid erregend, auch in wortreichen pba_644.015 Klagen sich ergießend, aber in friedlicher, dankbar frommer Fassung sich pba_644.016 in ihr Los schickend. Sie dankt dem „Freunde“ für seine zarte pba_644.017 Schonung und verheißt ihm, die Last der häuslichen Arbeit auch fernerhin pba_644.018 gemeinsam mit ihm zu tragen, „im Hause muß ich alles ordnen; kommt pba_644.019 der Tagelöhner heim, so freut er sich, es innen wohlbestellt zu sehn.“ pba_644.020 Jn gleicher idyllischer Stimmung erwidert er mit Sentenzen besonnener pba_644.021 Weisheit. — Orestes erscheint mit Pylades und exponiert in poetisch pba_644.022 geschmückter Rede seine Absicht, um sich dann, da Elektra zurückkehrt, pba_644.023 im Gebüsch zu verbergen, während jene ein längeres, wohlgesetztes pba_644.024 Klagelied singt. Ganz äußerlich motiviert tritt der Chor mykenischer pba_644.025 Landfrauen auf, um Elektra zu einem Fest der Hera zu laden; er mahnt pba_644.026 sie von ihrem Klagen ab und empfiehlt ihr das Gebet zu den Göttern. pba_644.027 Orestes tritt nun hervor und unterrichtet sich in ausführlicher Weise pba_644.028 im Gespräch mit Elektra über alle Vorgänge im elterlichen Hause, wobei pba_644.029 der Chor ohne den geringsten Anteil assistiert. Obwohl Elektra die pba_644.030 Frauen als unbedingt ergeben und verschwiegen rühmt, zögert Orestes pba_644.031 doch sich ihr zu entdecken. Wie genrehaft die Behandlung des alten pba_644.032 heroischen Sagenstoffes durchweg gehalten ist, dafür statt vieler Proben pba_644.033 ein einziges Zeugnis! Der Landmann erblickt heimkehrend die Männer pba_644.034 im Gespräch mit der ihm vermählten Elektra: „Ha! welche Fremden pba_644.035 seh ich hier an meiner Thür?“ ruft er aus. „Dem Weibe bringt's Unehre, pba_644.036 so mit jungen Männern dazustehn.“ Und Elektra: „Mein Liebster, pba_644.037 sei doch meinetwegen unbesorgt! Du sollst die Wahrheit hören u. s. f.“ pba_644.038 Jn dieser Situation nun hält Orestes den Umstehenden eine lange pba_644.039 Rede von mehr als dreißig wohlgefeilten Versen — worüber? Über die pba_644.040 echte Tugend des wahren Biedermannes! Hängt sie vom Gelde
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/662>, abgerufen am 23.11.2024.
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