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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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schauers, daß "die Orakel" recht haben. Dennoch macht sich hier am pba_606.002
stärksten der oben schon erwähnte Umstand geltend, daß dieser Unglaube pba_606.003
an sich für das moderne Bewußtsein nichts Verletzendes hat, wie bei pba_606.004
den Alten, und daß auch in der historischen Atmosphäre des Stückes pba_606.005
er nicht als Gotteslästerung empfunden werden kann. Diese schwache pba_606.006
Stelle hat der Dichter wohl bemerkt; er hat daher Sorge getragen, der pba_606.007
Verzweiflung Jsabellas denjenigen ganz allgemeinen Ausdruck zu leihen, pba_606.008
der Gültigkeit hat für alle Zeiten:

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Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut pba_606.010
Wie mir das Herz gebietet, will ich reden. pba_606.011
Warum besuchen wir die heil'gen Häuser pba_606.012
Und heben zu dem Himmel fromme Hände? pba_606.013
Gutmüt'ge Thoren, was gewinnen wir pba_606.014
Mit unserm Glauben? So unmöglich ist's, pba_606.015
Die Götter, die hochwohnenden, zu treffen, pba_606.016
Als in den Mond mit einem Pfeil zu schießen. pba_606.017
Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft, pba_606.018
Und kein Gebet durchbohrt den eh'rnen Himmel, pba_606.019
Ob rechts die Vögel fliegen oder links, pba_606.020
Die Sterne so sich oder anders fügen, pba_606.021
Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, pba_606.022
Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen.

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Und der Chor:

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Halt ein, Unglückliche! Wehe! Wehe! pba_606.025
Du leugnest der Sonne leuchtendes Licht pba_606.026
Mit blinden Augen! Die Götter leben, pba_606.027
Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben!

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Dann folgt der letzte schlimmste Schlag, die Erkennung, die das pba_606.029
Gräßliche enthüllt. Sie weiß nun, daß der überlebende Sohn der pba_606.030
Mörder des toten ist, und daß ihre Heimlichkeit "all dies Gräßliche verschuldet" pba_606.031
hat.

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Wie die Seher verkündet, so ist es gekommen; pba_606.033
Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick. pba_606.034
Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden, pba_606.035
Der muß es selber erbauend vollenden.

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Die Peripetie hat sich vollzogen. Sie treibt die Verblendete zu dem pba_606.037
letzten Schritt, der noch übrig bleibt, um auch das noch dem Verderben pba_606.038
zu weihen, was ihr an Glück geblieben ist. Jn jener äußersten Verzweiflung, pba_606.039
die keine Furcht mehr kennt, sagt sie sich von dem Sohne pba_606.040
los, "der ihr den bessern Sohn zu Tode stach":

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schauers, daß „die Orakel“ recht haben. Dennoch macht sich hier am pba_606.002
stärksten der oben schon erwähnte Umstand geltend, daß dieser Unglaube pba_606.003
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den Alten, und daß auch in der historischen Atmosphäre des Stückes pba_606.005
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Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut pba_606.010
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Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft, pba_606.018
Und kein Gebet durchbohrt den eh'rnen Himmel, pba_606.019
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Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, pba_606.022
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Halt ein, Unglückliche! Wehe! Wehe! pba_606.025
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Mit blinden Augen! Die Götter leben, pba_606.027
Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben!

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Dann folgt der letzte schlimmste Schlag, die Erkennung, die das pba_606.029
Gräßliche enthüllt. Sie weiß nun, daß der überlebende Sohn der pba_606.030
Mörder des toten ist, und daß ihre Heimlichkeit „all dies Gräßliche verschuldet“ pba_606.031
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Wie die Seher verkündet, so ist es gekommen; pba_606.033
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Der muß es selber erbauend vollenden.

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Die Peripetie hat sich vollzogen. Sie treibt die Verblendete zu dem pba_606.037
letzten Schritt, der noch übrig bleibt, um auch das noch dem Verderben pba_606.038
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[606/0624] pba_606.001 schauers, daß „die Orakel“ recht haben. Dennoch macht sich hier am pba_606.002 stärksten der oben schon erwähnte Umstand geltend, daß dieser Unglaube pba_606.003 an sich für das moderne Bewußtsein nichts Verletzendes hat, wie bei pba_606.004 den Alten, und daß auch in der historischen Atmosphäre des Stückes pba_606.005 er nicht als Gotteslästerung empfunden werden kann. Diese schwache pba_606.006 Stelle hat der Dichter wohl bemerkt; er hat daher Sorge getragen, der pba_606.007 Verzweiflung Jsabellas denjenigen ganz allgemeinen Ausdruck zu leihen, pba_606.008 der Gültigkeit hat für alle Zeiten: pba_606.009 Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut pba_606.010 Wie mir das Herz gebietet, will ich reden. pba_606.011 Warum besuchen wir die heil'gen Häuser pba_606.012 Und heben zu dem Himmel fromme Hände? pba_606.013 Gutmüt'ge Thoren, was gewinnen wir pba_606.014 Mit unserm Glauben? So unmöglich ist's, pba_606.015 Die Götter, die hochwohnenden, zu treffen, pba_606.016 Als in den Mond mit einem Pfeil zu schießen. pba_606.017 Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft, pba_606.018 Und kein Gebet durchbohrt den eh'rnen Himmel, pba_606.019 Ob rechts die Vögel fliegen oder links, pba_606.020 Die Sterne so sich oder anders fügen, pba_606.021 Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur, pba_606.022 Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen. pba_606.023 Und der Chor: pba_606.024 Halt ein, Unglückliche! Wehe! Wehe! pba_606.025 Du leugnest der Sonne leuchtendes Licht pba_606.026 Mit blinden Augen! Die Götter leben, pba_606.027 Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben! pba_606.028 Dann folgt der letzte schlimmste Schlag, die Erkennung, die das pba_606.029 Gräßliche enthüllt. Sie weiß nun, daß der überlebende Sohn der pba_606.030 Mörder des toten ist, und daß ihre Heimlichkeit „all dies Gräßliche verschuldet“ pba_606.031 hat. pba_606.032 Wie die Seher verkündet, so ist es gekommen; pba_606.033 Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick. pba_606.034 Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden, pba_606.035 Der muß es selber erbauend vollenden. pba_606.036 Die Peripetie hat sich vollzogen. Sie treibt die Verblendete zu dem pba_606.037 letzten Schritt, der noch übrig bleibt, um auch das noch dem Verderben pba_606.038 zu weihen, was ihr an Glück geblieben ist. Jn jener äußersten Verzweiflung, pba_606.039 die keine Furcht mehr kennt, sagt sie sich von dem Sohne pba_606.040 los, „der ihr den bessern Sohn zu Tode stach“:

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 606. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/624>, abgerufen am 23.11.2024.