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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Vorgeschichte seines Stücks unausgesetzt über dem Ganzen schwebend zu pba_600.002
zeigen und doch nun nicht etwa von dorther mechanisch das Verderbliche pba_600.003
hereinbrechen zu lassen, sondern dessen ursächliche Begründung mit pba_600.004
sorgfältigstem Bedacht aus der Hamartie der Handelnden herzuleiten. pba_600.005
Jäher Zorn, leidenschaftlich rascher Sinn (der thumos oxus) und die pba_600.006
so gern sich ihnen als Begleiterin zugesellt, die Heimlichkeit, das sind pba_600.007
die verhängnisvollen Wirkungen des Fluchs, Wirkungen, die in dem pba_600.008
freien Willen der Handelnden ihr Korrektiv finden könnten und die pba_600.009
ohne dasselbe als Jrrtümer und Fehler der Handelnden sich darstellen. pba_600.010
Sie entziehen ihnen nichts von der Achtung, auf der unser tiefes pba_600.011
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mit ihnen beruht, wir sehen sie unverschuldet leiden, aber pba_600.012
ihr Leiden erfüllt uns nicht mehr mit dem grauenvollen Entsetzen vor pba_600.013
grausamer Willkür eines unbegreiflichen Fatums, sondern wir erkennen pba_600.014
seinen Zusammenhang und fürchten das Schicksal, dessen hohe Gesetzlichkeit pba_600.015
wir verehren.

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Jn dem frevelhaft geschlossenen Ehebund Jsabellas fehlte das Vertrauen; pba_600.017
dem aus Gewissensangst entsprungenen grausamen Befehl des pba_600.018
Gatten die neugeborene Tochter zu töten, setzt sie Täuschung und eine pba_600.019
für das ganze Leben dauernde Verstellung entgegen, die ihr mehr und pba_600.020
mehr den Gemahl entfremden:

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Der von des Argwohns ruheloser Pein pba_600.022
Und finster grübelndem Verdacht genagt pba_600.023
Auf allen Schritten ihr die Späher pflanzte.

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Dieser Sinn ist auf den erstgeborenen Sohn übergegangen, der, pba_600.025
wie der Vater, "von jeher es liebte, sich verborgen in sich selbst zu pba_600.026
spinnen und den Ratschluß zu bewahren im unzugangbar fest verschlossenen pba_600.027
Gemüte!" Vor allem aber ist "aus diesem verhängnisvollen pba_600.028
Samen der unsel'ge Bruderhaß emporgewachsen", der den Boden bildet, pba_600.029
auf dem allein die Handlung sich so ereignen kann.

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Diesen Verhältnissen entstammen die Äußerungen banger Furcht, pba_600.031
mit denen der Chor gleich bei seinem ersten Auftreten sein Lied beschließt:

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Ungleich verteilt sind des Lebens Güter pba_600.033
Unter der Menschen flücht'gem Geschlecht; pba_600.034
Aber die Natur, sie ist ewig gerecht. pba_600.035
Uns verlieh sie das Mark und die Fülle, pba_600.036
Die sich immer erneuend erschafft; pba_600.037
Jenen ward der gewaltige Wille pba_600.038
Und die unzerbrechliche Kraft. pba_600.039
Mit der furchtbaren Stärke gerüstet

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Vorgeschichte seines Stücks unausgesetzt über dem Ganzen schwebend zu pba_600.002
zeigen und doch nun nicht etwa von dorther mechanisch das Verderbliche pba_600.003
hereinbrechen zu lassen, sondern dessen ursächliche Begründung mit pba_600.004
sorgfältigstem Bedacht aus der Hamartie der Handelnden herzuleiten. pba_600.005
Jäher Zorn, leidenschaftlich rascher Sinn (der θυμὸς ὀξύς) und die pba_600.006
so gern sich ihnen als Begleiterin zugesellt, die Heimlichkeit, das sind pba_600.007
die verhängnisvollen Wirkungen des Fluchs, Wirkungen, die in dem pba_600.008
freien Willen der Handelnden ihr Korrektiv finden könnten und die pba_600.009
ohne dasselbe als Jrrtümer und Fehler der Handelnden sich darstellen. pba_600.010
Sie entziehen ihnen nichts von der Achtung, auf der unser tiefes pba_600.011
Mitleid
mit ihnen beruht, wir sehen sie unverschuldet leiden, aber pba_600.012
ihr Leiden erfüllt uns nicht mehr mit dem grauenvollen Entsetzen vor pba_600.013
grausamer Willkür eines unbegreiflichen Fatums, sondern wir erkennen pba_600.014
seinen Zusammenhang und fürchten das Schicksal, dessen hohe Gesetzlichkeit pba_600.015
wir verehren.

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Jn dem frevelhaft geschlossenen Ehebund Jsabellas fehlte das Vertrauen; pba_600.017
dem aus Gewissensangst entsprungenen grausamen Befehl des pba_600.018
Gatten die neugeborene Tochter zu töten, setzt sie Täuschung und eine pba_600.019
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Der von des Argwohns ruheloser Pein pba_600.022
Und finster grübelndem Verdacht genagt pba_600.023
Auf allen Schritten ihr die Späher pflanzte.

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Dieser Sinn ist auf den erstgeborenen Sohn übergegangen, der, pba_600.025
wie der Vater, „von jeher es liebte, sich verborgen in sich selbst zu pba_600.026
spinnen und den Ratschluß zu bewahren im unzugangbar fest verschlossenen pba_600.027
Gemüte!“ Vor allem aber ist „aus diesem verhängnisvollen pba_600.028
Samen der unsel'ge Bruderhaß emporgewachsen“, der den Boden bildet, pba_600.029
auf dem allein die Handlung sich so ereignen kann.

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Diesen Verhältnissen entstammen die Äußerungen banger Furcht, pba_600.031
mit denen der Chor gleich bei seinem ersten Auftreten sein Lied beschließt:

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Ungleich verteilt sind des Lebens Güter pba_600.033
Unter der Menschen flücht'gem Geschlecht; pba_600.034
Aber die Natur, sie ist ewig gerecht. pba_600.035
Uns verlieh sie das Mark und die Fülle, pba_600.036
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 600. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/618>, abgerufen am 23.11.2024.