pba_599.001 Übertragung solcher Vorgänge auf andere Religionsgebiete die gewünschte pba_599.002 Wirkung nur erst erzielt, wenn wir mit einer Art bewußter Selbsttäuschung pba_599.003 die in der griechischen Tragödie geläufige Vorstellungsweise darauf anwenden. pba_599.004 Schiller macht von diesem Mittel in der "Braut" mit größter pba_599.005 Meisterschaft Gebrauch, und wieder ist es der Chor, der ihm zum Gelingen pba_599.006 hilft. Das wäre aber nicht möglich, selbst bei den klassisch Gebildeten pba_599.007 nicht, um wieviel weniger bei den mit den Griechen Unbefreundeten, pba_599.008 wenn in diesen Formen nicht eine allgemein menschliche, unmittelbar pba_599.009 bezwingende Wirkung läge.
pba_599.010 Das Geheimnis dieser Wirkung ist das Geheimnis der Tragödie: pba_599.011 es ist die Macht dieser Formen über die Erregung der Furcht-pba_599.012 Empfindungen und ihre Kraft dieselben kathartisch zu läutern.
pba_599.013 Daher auch der Umstand, daß der Chor wie von selbst sich als pba_599.014 ihr Träger einstellt. Jedes Wort zur Begründung dieser Sätze ist zugleich pba_599.015 ein Argument zur Erklärung des Baues der Tragödie.
pba_599.016 Deswegen also gehört die "Braut von Messina" zu den nach pba_599.017 Aristoteles am vollkommensten angelegten Tragödien, zu der Gattung pba_599.018 der verwickelten, auf Erkennung und Peripetie basierten Handlungen, pba_599.019 weil mit dieser Anlage die Furcht vor dem durch die Vorgeschichte pba_599.020 bedingten schweren Schicksal von vornherein gegeben ist. Diese Furcht, pba_599.021 insofern sie dem Einzelnen seine unbedingte Abhängigkeit von ganz pba_599.022 außerhalb seiner Willenssphäre liegenden, schon vor seiner Geburt endgültig pba_599.023 festgestellten Faktoren vorstellig macht, ist uneingeschränkter Verallgemeinerung pba_599.024 fähig; sie erhält dieselbe, wenn die Ausgestaltung der pba_599.025 Handlung die irrende Schwäche der Menschen, die das Geschick auf ihre pba_599.026 Weise bezwingen will, gerade als die Vollenderin desselben zeigt. Das pba_599.027 wären die Elemente die tragische Furcht zu stärkster Aktion zu pba_599.028 bringen: die Katharsis aber muß von einer andern Seite pba_599.029 kommen!
pba_599.030 Ohne dieselbe wäre die "Braut von Messina", wie man sie pba_599.031 oft gescholten hat, eine Schicksalstragödie im tadelnden Sinne des pba_599.032 Wortes; sie wäre das, was Schiller früher irrtümlich in der griechischen pba_599.033 Tragödie erblickt hatte, eine Darstellung dunklen Verhängnisses, pba_599.034 von blinder Notwendigkeit regiert. Schiller aber hat, ohne die Aufgabe pba_599.035 sich mit theoretischem Bewußtsein gestellt zu haben, allein durch pba_599.036 seinen Genius und die getreue Beobachtung der Alten geführt diese pba_599.037 Aufgabe in würdigster Weise gelöst. Die gewählte Form in ihrem pba_599.038 engen Anschlusse an die Antike erleichterte ihm dies Gelingen in pba_599.039 hohem Grade.
pba_599.040 Er hat es von Sophokles und Äschylus gelernt, den Fluch der
pba_599.001 Übertragung solcher Vorgänge auf andere Religionsgebiete die gewünschte pba_599.002 Wirkung nur erst erzielt, wenn wir mit einer Art bewußter Selbsttäuschung pba_599.003 die in der griechischen Tragödie geläufige Vorstellungsweise darauf anwenden. pba_599.004 Schiller macht von diesem Mittel in der „Braut“ mit größter pba_599.005 Meisterschaft Gebrauch, und wieder ist es der Chor, der ihm zum Gelingen pba_599.006 hilft. Das wäre aber nicht möglich, selbst bei den klassisch Gebildeten pba_599.007 nicht, um wieviel weniger bei den mit den Griechen Unbefreundeten, pba_599.008 wenn in diesen Formen nicht eine allgemein menschliche, unmittelbar pba_599.009 bezwingende Wirkung läge.
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pba_599.013 Daher auch der Umstand, daß der Chor wie von selbst sich als pba_599.014 ihr Träger einstellt. Jedes Wort zur Begründung dieser Sätze ist zugleich pba_599.015 ein Argument zur Erklärung des Baues der Tragödie.
pba_599.016 Deswegen also gehört die „Braut von Messina“ zu den nach pba_599.017 Aristoteles am vollkommensten angelegten Tragödien, zu der Gattung pba_599.018 der verwickelten, auf Erkennung und Peripetie basierten Handlungen, pba_599.019 weil mit dieser Anlage die Furcht vor dem durch die Vorgeschichte pba_599.020 bedingten schweren Schicksal von vornherein gegeben ist. Diese Furcht, pba_599.021 insofern sie dem Einzelnen seine unbedingte Abhängigkeit von ganz pba_599.022 außerhalb seiner Willenssphäre liegenden, schon vor seiner Geburt endgültig pba_599.023 festgestellten Faktoren vorstellig macht, ist uneingeschränkter Verallgemeinerung pba_599.024 fähig; sie erhält dieselbe, wenn die Ausgestaltung der pba_599.025 Handlung die irrende Schwäche der Menschen, die das Geschick auf ihre pba_599.026 Weise bezwingen will, gerade als die Vollenderin desselben zeigt. Das pba_599.027 wären die Elemente die tragische Furcht zu stärkster Aktion zu pba_599.028 bringen: die Katharsis aber muß von einer andern Seite pba_599.029 kommen!
pba_599.030 Ohne dieselbe wäre die „Braut von Messina“, wie man sie pba_599.031 oft gescholten hat, eine Schicksalstragödie im tadelnden Sinne des pba_599.032 Wortes; sie wäre das, was Schiller früher irrtümlich in der griechischen pba_599.033 Tragödie erblickt hatte, eine Darstellung dunklen Verhängnisses, pba_599.034 von blinder Notwendigkeit regiert. Schiller aber hat, ohne die Aufgabe pba_599.035 sich mit theoretischem Bewußtsein gestellt zu haben, allein durch pba_599.036 seinen Genius und die getreue Beobachtung der Alten geführt diese pba_599.037 Aufgabe in würdigster Weise gelöst. Die gewählte Form in ihrem pba_599.038 engen Anschlusse an die Antike erleichterte ihm dies Gelingen in pba_599.039 hohem Grade.
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Übertragung solcher Vorgänge auf andere Religionsgebiete die gewünschte pba_599.002
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Schiller macht von diesem Mittel in der „Braut“ mit größter pba_599.005
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/617>, abgerufen am 23.11.2024.
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