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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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ganze Gemüt erweitert. Diese eine Riesengestalt in seinem Bilde nötigt pba_595.002
ihn, alle seine Figuren auf den Kothurn zu stellen und seinem Gemälde pba_595.003
dadurch die tragische Größe zu geben."

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Es liegt auf der Hand, daß dieses Argument ein rein äußerliches pba_595.005
wird, wenn die "tragische Größe" der Handlung nicht ohnehin eigen pba_595.006
ist, d. h. mit andern Worten, wenn die Handlung nicht die veranlassenden pba_595.007
Elemente für die großartigen Empfindungsäußerungen des pba_595.008
Chors enthält, d. i. wenn sie nicht auf die Erweckung von Furcht und pba_595.009
Mitleid und die Vollendung ihrer Katharsis angelegt ist.

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4) "So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er pba_595.011
Ruhe in die Handlung -- aber die schöne und hohe Ruhe, die der pba_595.012
Charakter eines edlen Kunstwerkes sein muß. Denn das Gemüt des pba_595.013
Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten; pba_595.014
es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter pba_595.015
von den Rührungen scheiden, die es erleidet."

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Wie nahe kommt Schiller mit diesen Worten der Forderung der pba_595.017
tragischen Katharsis! Sie in voller Klarheit zu erkennen, daran hindert pba_595.018
ihn ein Rest seiner früheren Kunsttheorie, der sich in der weiteren pba_595.019
Motivierung bemerkbar macht. Daß der Chor die "Gewalt der Affekte pba_595.020
breche", sei an ihm nicht zu tadeln, sondern gereiche ihm zur höchsten pba_595.021
Empfehlung; "denn eben diese blinde Gewalt der Affekte ist es, die der pba_595.022
wahre Künstler vermeidet". Aber anstatt nun den richtigen Affekt pba_595.023
selbst als Wirkungsziel in Aussicht zu nehmen, bleibt er mit seiner pba_595.024
Betrachtungsweise bei nebengeordneten oder mehr äußerlichen Argumenten pba_595.025
stehen: träte der Chor nicht mit seiner Würde dazwischen, "so pba_595.026
würde das Leiden über die Thätigkeit siegen"; "wir würden uns mit pba_595.027
dem Stoffe vermengen und nicht mehr über demselben schweben"; "dadurch, pba_595.028
daß er die Teile auseinander hält und zwischen die Passionen pba_595.029
mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsere Freiheit pba_595.030
zurück, die im Sturm der Affekte verloren gehen würde".

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Betreffs der Einheitlichkeit des Chors und seiner dramatischen pba_595.032
Verwendung als Person folgt noch die wichtige Bemerkung, die mit dem pba_595.033
Verfahren der antiken Tragiker in völligem Einklange steht, daß zu pba_595.034
unterscheiden sei, "wo der Chor als wirkliche Person und als blinde pba_595.035
Menge mithandelt", und "wo er als ideale Person auftritt" und pba_595.036
"immer eins mit sich selbst" bleibt. Nur hätte Schiller hinzufügen pba_595.037
können, daß bei den Alten auch diese Unterscheidung eine organische pba_595.038
und gewissermaßen von selbst aus der Hauptaufgabe des Chors hervorgehende pba_595.039
war. Bestand diese letztere darin, einmal je nach dem Bedürfnis pba_595.040
des Stoffes den durch denselben minder stark erregten Affekt

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ganze Gemüt erweitert. Diese eine Riesengestalt in seinem Bilde nötigt pba_595.002
ihn, alle seine Figuren auf den Kothurn zu stellen und seinem Gemälde pba_595.003
dadurch die tragische Größe zu geben.“

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Es liegt auf der Hand, daß dieses Argument ein rein äußerliches pba_595.005
wird, wenn die „tragische Größe“ der Handlung nicht ohnehin eigen pba_595.006
ist, d. h. mit andern Worten, wenn die Handlung nicht die veranlassenden pba_595.007
Elemente für die großartigen Empfindungsäußerungen des pba_595.008
Chors enthält, d. i. wenn sie nicht auf die Erweckung von Furcht und pba_595.009
Mitleid und die Vollendung ihrer Katharsis angelegt ist.

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4) „So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er pba_595.011
Ruhe in die Handlung — aber die schöne und hohe Ruhe, die der pba_595.012
Charakter eines edlen Kunstwerkes sein muß. Denn das Gemüt des pba_595.013
Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten; pba_595.014
es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter pba_595.015
von den Rührungen scheiden, die es erleidet.“

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Wie nahe kommt Schiller mit diesen Worten der Forderung der pba_595.017
tragischen Katharsis! Sie in voller Klarheit zu erkennen, daran hindert pba_595.018
ihn ein Rest seiner früheren Kunsttheorie, der sich in der weiteren pba_595.019
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breche“, sei an ihm nicht zu tadeln, sondern gereiche ihm zur höchsten pba_595.021
Empfehlung; „denn eben diese blinde Gewalt der Affekte ist es, die der pba_595.022
wahre Künstler vermeidet“. Aber anstatt nun den richtigen Affekt pba_595.023
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würde das Leiden über die Thätigkeit siegen“; „wir würden uns mit pba_595.027
dem Stoffe vermengen und nicht mehr über demselben schweben“; „dadurch, pba_595.028
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Betreffs der Einheitlichkeit des Chors und seiner dramatischen pba_595.032
Verwendung als Person folgt noch die wichtige Bemerkung, die mit dem pba_595.033
Verfahren der antiken Tragiker in völligem Einklange steht, daß zu pba_595.034
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„immer eins mit sich selbst“ bleibt. Nur hätte Schiller hinzufügen pba_595.037
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/613>, abgerufen am 23.11.2024.