pba_594.001 Sinnlichen." "So umgibt der Chor die streng abgemessene Handlung pba_594.002 und die festen Umrisse der handelnden Personen mit einem lyrischen pba_594.003 Prachtgewebe, in welchem sich, als wie in einem weit gefalteten Purpurgewand, pba_594.004 die handelnden Personen frei und edel mit einer gehaltenen pba_594.005 Würde und hoher Ruhe bewegen." "Er verläßt den engen Kreis der pba_594.006 Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten pba_594.007 und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um pba_594.008 die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der pba_594.009 Weisheit auszusprechen. Aber er thut dieses mit der vollen Macht der pba_594.010 Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen pba_594.011 Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götterpba_594.012 einhergeht -- und er thut es, von der ganzen sinnlichen Macht des pba_594.013 Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet."
pba_594.014 Lauter feine Beobachtungen und in bilderreicher Sprache treffend pba_594.015 ausgedrückt! Aber es fehlt ihnen das zusammenhaltende Princip, wodurch pba_594.016 alle diese Funktionen des Chors erst zu einem integrierenden pba_594.017 Teile des tragischen Kunstwerks werden, wodurch zugleich auch das pba_594.018 Wie? und das Warum? derselben gegeben ist. Teilt man dem Chor, pba_594.019 wie Schiller es thut, eben nur die Aufgabe zu mit lyrischer Reflexion die pba_594.020 Handlung zu begleiten und so "das tragische Gedicht von derselben zu pba_594.021 reinigen", so könnte dieselbe gar leicht zu einem bloßen "Prachtgewande" pba_594.022 werden, zu einer schmuckvollen Zuthat, die auch entbehrlich, pba_594.023 mithin ihrem Wesen nach dem Kunstwerk nicht angehörig wäre. Der pba_594.024 Chor leistet alles das, was Schiller von ihm aussagt, indem er als dem pba_594.025 Handelnden nahestehender und doch von seinem Leiden minder betroffener pba_594.026 Beobachter vorzüglich geeignet ist die durch sein Schicksal in Bewegung pba_594.027 gesetzten Affekte auf das lebhafteste zu teilen, ohne von ihnen doch überwältigt pba_594.028 zu werden. Er ist der natürliche Jnterpret unserer eigenen pba_594.029 Empfindungen diesem Schicksal gegenüber, zugleich berufen sie mächtig pba_594.030 in uns aufzuregen und geschickt ihnen das rechte Maß anzuweisen, daß pba_594.031 wir darüber unsre Freiheit nicht verlieren. Schillers Wort von dem pba_594.032 "Jndifferenzpunkt des Jdeellen und Sinnlichen" ist sehr glücklich gewählt, pba_594.033 wenn man es dahin deutet, daß auf solche Weise der rohe, pba_594.034 elementare Stoff der tragischen Affekte diejenige absolut pba_594.035 berechtigte Form erhält, in welcher er mit den ideellen pba_594.036 Forderungen des Geistes in vollkommene Harmonie tritt.pba_594.037 Das aber ist nichts als eine andere Formel für das Wesen der tragischen pba_594.038 Katharsis.
pba_594.039 3) "Der Chor berechtigt den tragischen Dichter zu einer Erhebung pba_594.040 des Tons, die das Ohr ausfüllt, die den Geist anspannt, die das
pba_594.001 Sinnlichen.“ „So umgibt der Chor die streng abgemessene Handlung pba_594.002 und die festen Umrisse der handelnden Personen mit einem lyrischen pba_594.003 Prachtgewebe, in welchem sich, als wie in einem weit gefalteten Purpurgewand, pba_594.004 die handelnden Personen frei und edel mit einer gehaltenen pba_594.005 Würde und hoher Ruhe bewegen.“ „Er verläßt den engen Kreis der pba_594.006 Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten pba_594.007 und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um pba_594.008 die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der pba_594.009 Weisheit auszusprechen. Aber er thut dieses mit der vollen Macht der pba_594.010 Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen pba_594.011 Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götterpba_594.012 einhergeht — und er thut es, von der ganzen sinnlichen Macht des pba_594.013 Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet.“
pba_594.014 Lauter feine Beobachtungen und in bilderreicher Sprache treffend pba_594.015 ausgedrückt! Aber es fehlt ihnen das zusammenhaltende Princip, wodurch pba_594.016 alle diese Funktionen des Chors erst zu einem integrierenden pba_594.017 Teile des tragischen Kunstwerks werden, wodurch zugleich auch das pba_594.018 Wie? und das Warum? derselben gegeben ist. Teilt man dem Chor, pba_594.019 wie Schiller es thut, eben nur die Aufgabe zu mit lyrischer Reflexion die pba_594.020 Handlung zu begleiten und so „das tragische Gedicht von derselben zu pba_594.021 reinigen“, so könnte dieselbe gar leicht zu einem bloßen „Prachtgewande“ pba_594.022 werden, zu einer schmuckvollen Zuthat, die auch entbehrlich, pba_594.023 mithin ihrem Wesen nach dem Kunstwerk nicht angehörig wäre. Der pba_594.024 Chor leistet alles das, was Schiller von ihm aussagt, indem er als dem pba_594.025 Handelnden nahestehender und doch von seinem Leiden minder betroffener pba_594.026 Beobachter vorzüglich geeignet ist die durch sein Schicksal in Bewegung pba_594.027 gesetzten Affekte auf das lebhafteste zu teilen, ohne von ihnen doch überwältigt pba_594.028 zu werden. Er ist der natürliche Jnterpret unserer eigenen pba_594.029 Empfindungen diesem Schicksal gegenüber, zugleich berufen sie mächtig pba_594.030 in uns aufzuregen und geschickt ihnen das rechte Maß anzuweisen, daß pba_594.031 wir darüber unsre Freiheit nicht verlieren. Schillers Wort von dem pba_594.032 „Jndifferenzpunkt des Jdeellen und Sinnlichen“ ist sehr glücklich gewählt, pba_594.033 wenn man es dahin deutet, daß auf solche Weise der rohe, pba_594.034 elementare Stoff der tragischen Affekte diejenige absolut pba_594.035 berechtigte Form erhält, in welcher er mit den ideellen pba_594.036 Forderungen des Geistes in vollkommene Harmonie tritt.pba_594.037 Das aber ist nichts als eine andere Formel für das Wesen der tragischen pba_594.038 Katharsis.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 594. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/612>, abgerufen am 23.11.2024.
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