pba_591.001 Fluge die Kraft gegeben (Brief an W. v. Humboldt vom 17. 2. 1803). pba_591.002 Die Wirkung der "Braut von Messina" war bei den ersten Aufführungen pba_591.003 eine gewaltige, auch in der breiten Masse des Publikums, pba_591.004 trotz der Ungewöhnlichkeit der angewandten Mittel. Eine höchst bedeutsame pba_591.005 Äußerung Schillers darüber liegt in seinem Bericht von den pba_591.006 ersten Aufführungen an Körner vor (Brief vom 28. 3. 1803): "Über pba_591.007 den Chor und das vorwaltend Lyrische in dem Stücke sind die Stimmen pba_591.008 natürlich sehr geteilt, da noch ein großer Teil des ganzen deutschen pba_591.009 Publikums seine prosaischen Begriffe von dem Natürlichen pba_591.010 in einem Dichterwerke nicht ablegen kann. Es ist der alte und pba_591.011 der ewige Streit, den wir beizulegen nicht hoffen dürfen. Was mich pba_591.012 selbst betrifft, so kann ich wohl sagen, daß ich in der "Braut von pba_591.013 Messina" zum erstenmal den Eindruck einer wahren Tragödiepba_591.014 bekam. Der Chor hielt das Ganze trefflich zusammen, und ein hoher pba_591.015 furchtbarer Ernst waltete durch die ganze Handlung. Goethe ist pba_591.016 es auch so ergangen; er meint: der theatralische Boden wäre durch pba_591.017 diese Erscheinung zu etwas Höherm eingeweiht worden."
pba_591.018 Worin lag diese von Schiller wie von Goethe so hoch gepriesene pba_591.019 Wirkung? Es ist im höchsten Maß instruktiv sich diese Frage zu beantworten. pba_591.020 Um diese Antwort zu erhalten, genügt es, eine Reihe von pba_591.021 Sätzen der das Stück begleitenden Abhandlung Schillers "Über den pba_591.022 Gebrauch des Chors in der Tragödie" zusammenzustellen. Dabei ergibt pba_591.023 sich die überraschende Thatsache, daß der verborgene Punkt, um pba_591.024 den sich alle Argumente Schillers bewegen, auf den sie alle hinzielen, pba_591.025 das Centrum gerade jener Lücke bildet, die in Schillers theoretischer pba_591.026 Erkenntnis des Tragischen offen blieb. Sie alle gehen dahin, die pba_591.027 mangelnde Forderung der tragischen Furcht und der tragischen Katharsis pba_591.028 zu ersetzen.
pba_591.029 Er verlangt zu oberst: Veredelung der tragischen Kunst, das pba_591.030 "Würdigste soll sie sich zum Ziele setzen".
pba_591.031 "Es ist nicht wahr, was man gewöhnlich behaupten hört, daß pba_591.032 das Publikum die Kunst herabzieht; der Künstler zieht das Publikum pba_591.033 herab, und zu allen Zeiten, wo die Kunst verfiel, ist sie durch die pba_591.034 Künstler gefallen. Das Publikum braucht nichts als Empfänglichkeit, pba_591.035 und diese besitzt es. Es tritt vor den Vorhang mit einem unbestimmten pba_591.036 Verlangen, mit einem vielseitigen Vermögen. Zu dem Höchsten pba_591.037 bringt es eine Fähigkeit mit: es erfreut sich an dem Verständigen pba_591.038 und Rechten." Doch nicht etwa, weil es einen gebildeten pba_591.039 Verstand und eine entwickelte Vernunft mitbringt: wohl aber pba_591.040 die Fähigkeit, sein Empfinden der Wahrnehmung des an sich "Ver-
pba_591.001 Fluge die Kraft gegeben (Brief an W. v. Humboldt vom 17. 2. 1803). pba_591.002 Die Wirkung der „Braut von Messina“ war bei den ersten Aufführungen pba_591.003 eine gewaltige, auch in der breiten Masse des Publikums, pba_591.004 trotz der Ungewöhnlichkeit der angewandten Mittel. Eine höchst bedeutsame pba_591.005 Äußerung Schillers darüber liegt in seinem Bericht von den pba_591.006 ersten Aufführungen an Körner vor (Brief vom 28. 3. 1803): „Über pba_591.007 den Chor und das vorwaltend Lyrische in dem Stücke sind die Stimmen pba_591.008 natürlich sehr geteilt, da noch ein großer Teil des ganzen deutschen pba_591.009 Publikums seine prosaischen Begriffe von dem Natürlichen pba_591.010 in einem Dichterwerke nicht ablegen kann. Es ist der alte und pba_591.011 der ewige Streit, den wir beizulegen nicht hoffen dürfen. Was mich pba_591.012 selbst betrifft, so kann ich wohl sagen, daß ich in der „Braut von pba_591.013 Messina“ zum erstenmal den Eindruck einer wahren Tragödiepba_591.014 bekam. Der Chor hielt das Ganze trefflich zusammen, und ein hoher pba_591.015 furchtbarer Ernst waltete durch die ganze Handlung. Goethe ist pba_591.016 es auch so ergangen; er meint: der theatralische Boden wäre durch pba_591.017 diese Erscheinung zu etwas Höherm eingeweiht worden.“
pba_591.018 Worin lag diese von Schiller wie von Goethe so hoch gepriesene pba_591.019 Wirkung? Es ist im höchsten Maß instruktiv sich diese Frage zu beantworten. pba_591.020 Um diese Antwort zu erhalten, genügt es, eine Reihe von pba_591.021 Sätzen der das Stück begleitenden Abhandlung Schillers „Über den pba_591.022 Gebrauch des Chors in der Tragödie“ zusammenzustellen. Dabei ergibt pba_591.023 sich die überraschende Thatsache, daß der verborgene Punkt, um pba_591.024 den sich alle Argumente Schillers bewegen, auf den sie alle hinzielen, pba_591.025 das Centrum gerade jener Lücke bildet, die in Schillers theoretischer pba_591.026 Erkenntnis des Tragischen offen blieb. Sie alle gehen dahin, die pba_591.027 mangelnde Forderung der tragischen Furcht und der tragischen Katharsis pba_591.028 zu ersetzen.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/609>, abgerufen am 23.11.2024.
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