pba_551.001 und würde durch die Herrschaft des moralischen Gesichtspunkts ebenso pba_551.002 schwer geschädigt, ja vernichtet werden wie dort.
pba_551.003 Zu welcher Unerträglichkeit moralischer Sophisterei diese unglückliche pba_551.004 Zweckmäßigkeitstheorie führen kann, zeigt das Beispiel, welches pba_551.005 Schiller für den Konflikt der Pflichten anführt. "Wenn der Korinthier pba_551.006 Timoleon einen geliebten, aber ehrsüchtigen Bruder Timophanes ermorden pba_551.007 läßt, weil seine Meinung von patriotischer Pflicht ihn zur pba_551.008 Vertilgung alles dessen, was die Republik in Gefahr setzt, verbindet, so pba_551.009 sehen wir ihn zwar nicht ohne Entsetzen und Abscheu diese naturwidrige pba_551.010 Handlung begehen; aber unser Abscheu löst sich bald in die höchste pba_551.011 Achtung der heroischen Tugend auf." Warum? Weil es "gerade solche pba_551.012 Fälle sind, wo unser Verstand nicht auf seiten der handelnden Person pba_551.013 ist, aus welchen man erkennt, wie sehr wir Pflichtmäßigkeit über pba_551.014 Zweckmäßigkeit, Einstimmung der Vernunft über die Einstimmung pba_551.015 mit dem Verstande erheben!"
pba_551.016 Es gäbe nur eine Art die Geschichte Timoleons tragisch zu behandeln: pba_551.017 wenn der Dichter aus dem vergossenen Bruderblut die Erinnys pba_551.018 sich erheben ließe, welche die Überhebung "seiner Meinung" von pba_551.019 patriotischer Pflicht über das Gesetz der Natur rächte. Wie richtig hat pba_551.020 das Shakespeare in seinem "Brutus" erkannt, auf dessen Hamartie und pba_551.021 Untergang er die Tragik seines "Julius Cäsar" sich aufbauen ließ!
pba_551.022 Jn dem Sinne aber, wie Plutarch die Geschichte Timoleons erzählt, pba_551.023 wäre sie nur für das Schauspiel brauchbar: auch hier nicht pba_551.024 auf moralische Beurteilung zugespitzt -- deren große Mißlichkeit für pba_551.025 diesen Fall Schiller selbst ausführlich erörtert --, sondern auf die unmittelbar pba_551.026 billigende oder reprobierende Stimme unseres natürlichen Empfindens pba_551.027 eingerichtet, so zwar, daß durch die bloße Anschauung die pba_551.028 beruhigte, geklärte Antwort aller gewährleistet würde. So ist Schiller pba_551.029 selbst in seinem "Wilhelm Tell" verfahren. Natürlich müßte in dem pba_551.030 weit schwierigeren Falle des Timoleon der Dichter sehr viel hinzuthun, pba_551.031 um erstlich durch Belastung der gegenüberstehenden Seite die That unabwendbar pba_551.032 und sodann durch die dazu geeignete Verwickelung den Bruder pba_551.033 als den einzig berufenen Thäter mit Evidenz erscheinen zu lassen.
pba_551.034 Schiller schließt mit der Bemerkung, die sein Zweckmäßigkeitsprincip pba_551.035 zu bestätigen scheinen könnte, daß auch "geistreiche Bosheit", pba_551.036 insofern sie uns eine "Naturzweckmäßigkeit" vorstelle, uns vergnüge. Die pba_551.037 Bemerkung ist richtig, aber aus einem andern, allgemein ästhetischen pba_551.038 Grunde: weil nämlich die Anschauung einer jeden bedeutenden Kraftentfaltung pba_551.039 an sich die Empfindung zu einer ihrer Natur gemäßen, daher pba_551.040 wohlgefälligen Bethätigung veranlaßt. Diese Kraftentfaltung besteht nun
pba_551.001 und würde durch die Herrschaft des moralischen Gesichtspunkts ebenso pba_551.002 schwer geschädigt, ja vernichtet werden wie dort.
pba_551.003 Zu welcher Unerträglichkeit moralischer Sophisterei diese unglückliche pba_551.004 Zweckmäßigkeitstheorie führen kann, zeigt das Beispiel, welches pba_551.005 Schiller für den Konflikt der Pflichten anführt. „Wenn der Korinthier pba_551.006 Timoleon einen geliebten, aber ehrsüchtigen Bruder Timophanes ermorden pba_551.007 läßt, weil seine Meinung von patriotischer Pflicht ihn zur pba_551.008 Vertilgung alles dessen, was die Republik in Gefahr setzt, verbindet, so pba_551.009 sehen wir ihn zwar nicht ohne Entsetzen und Abscheu diese naturwidrige pba_551.010 Handlung begehen; aber unser Abscheu löst sich bald in die höchste pba_551.011 Achtung der heroischen Tugend auf.“ Warum? Weil es „gerade solche pba_551.012 Fälle sind, wo unser Verstand nicht auf seiten der handelnden Person pba_551.013 ist, aus welchen man erkennt, wie sehr wir Pflichtmäßigkeit über pba_551.014 Zweckmäßigkeit, Einstimmung der Vernunft über die Einstimmung pba_551.015 mit dem Verstande erheben!“
pba_551.016 Es gäbe nur eine Art die Geschichte Timoleons tragisch zu behandeln: pba_551.017 wenn der Dichter aus dem vergossenen Bruderblut die Erinnys pba_551.018 sich erheben ließe, welche die Überhebung „seiner Meinung“ von pba_551.019 patriotischer Pflicht über das Gesetz der Natur rächte. Wie richtig hat pba_551.020 das Shakespeare in seinem „Brutus“ erkannt, auf dessen Hamartie und pba_551.021 Untergang er die Tragik seines „Julius Cäsar“ sich aufbauen ließ!
pba_551.022 Jn dem Sinne aber, wie Plutarch die Geschichte Timoleons erzählt, pba_551.023 wäre sie nur für das Schauspiel brauchbar: auch hier nicht pba_551.024 auf moralische Beurteilung zugespitzt — deren große Mißlichkeit für pba_551.025 diesen Fall Schiller selbst ausführlich erörtert —, sondern auf die unmittelbar pba_551.026 billigende oder reprobierende Stimme unseres natürlichen Empfindens pba_551.027 eingerichtet, so zwar, daß durch die bloße Anschauung die pba_551.028 beruhigte, geklärte Antwort aller gewährleistet würde. So ist Schiller pba_551.029 selbst in seinem „Wilhelm Tell“ verfahren. Natürlich müßte in dem pba_551.030 weit schwierigeren Falle des Timoleon der Dichter sehr viel hinzuthun, pba_551.031 um erstlich durch Belastung der gegenüberstehenden Seite die That unabwendbar pba_551.032 und sodann durch die dazu geeignete Verwickelung den Bruder pba_551.033 als den einzig berufenen Thäter mit Evidenz erscheinen zu lassen.
pba_551.034 Schiller schließt mit der Bemerkung, die sein Zweckmäßigkeitsprincip pba_551.035 zu bestätigen scheinen könnte, daß auch „geistreiche Bosheit“, pba_551.036 insofern sie uns eine „Naturzweckmäßigkeit“ vorstelle, uns vergnüge. Die pba_551.037 Bemerkung ist richtig, aber aus einem andern, allgemein ästhetischen pba_551.038 Grunde: weil nämlich die Anschauung einer jeden bedeutenden Kraftentfaltung pba_551.039 an sich die Empfindung zu einer ihrer Natur gemäßen, daher pba_551.040 wohlgefälligen Bethätigung veranlaßt. Diese Kraftentfaltung besteht nun
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Schiller schließt mit der Bemerkung, die sein Zweckmäßigkeitsprincip pba_551.035
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/569>, abgerufen am 23.11.2024.
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