pba_520.001 citierte Stelle richtet sich gegen Mendelssohns irrtümliche Erklärung der pba_520.002 Jllusion. Mendelssohn hatte das Vergnügen an der künstlerischen Nachahmung pba_520.003 auf die intuitive Erkenntnis der Vollkommenheit derselben pba_520.004 zurückgeführt; diese intuitive Erkenntnis würde uns dadurch zu teil, daß pba_520.005 die vollkommene Nachahmung uns mit demselben Affekte erfüllte wie der pba_520.006 wirkliche Gegenstand, während wir uns doch zugleich der Täuschung bewußt pba_520.007 wären. Lessing weist diese Erklärung an sich zurück; sodann aber pba_520.008 zeigt er, daß der Begriff der Jllusion überhaupt für die künstlerische pba_520.009 Nachahmung gar nicht in Betracht komme. Er bedient sich dabei des pba_520.010 auch schon von Mendelssohn benutzten, so oft und immer wieder mißverstandenen pba_520.011 aristotelischen Beispiels von der gemalten Schlange,1 "die, pba_520.012 wenn wir sie plötzlich erblicken, uns desto besser gefällt, je heftiger wir pba_520.013 darüber erschrocken sind". Aristoteles spricht an der Stelle nicht von pba_520.014 der Kunst, sondern von dem Ursprung der Kunst und erklärt ihre pba_520.015 ersten rohen Anfänge aus dem Vergnügen, das wir an der Nachahmung pba_520.016 überhaupt empfinden; nicht also von der künstlerischen Nachahmung pba_520.017 ist die Rede, die sich als solche gibt, sondern von der pba_520.018 Nachahmung überhaupt, die im Leben als solche gerade umgekehrt pba_520.019 darauf ausgeht, zu täuschen. Schon diese, sagt Aristoteles, macht pba_520.020 uns Vergnügen, und zwar um so mehr, je gelungener sie ist. Solche pba_520.021 Nachahmungen regten zuerst zu primitiven Kunstversuchen (autoskhediasmata) pba_520.022 an. Die Kunst hat mit jenen auf wirkliche Täuschung berechneten pba_520.023 Nachahmungen weiterhin nichts gemein, als daß auch bei ihr allerdings pba_520.024 noch ein Vergnügen an der Nachahmung als solcher stattfindet, pba_520.025 das aber nur mittelbar und nebengeordnet in Betracht kommt. Genau pba_520.026 ebenso trennt nun Lessing; er unterscheidet die reale Wirkung der Nachahmung pba_520.027 als solcher von der Wirkung der künstlerischen Nachahmung. pba_520.028 Nur für die erste adoptiert er die Dubosschen Sätze von der Leidenschaft, pba_520.029 die uns ein erhöhtes Bewußtsein unserer Realität verleiht und pba_520.030 von dem Wegfall des mit der Wirklichkeit verbundenen Unangenehmen pba_520.031 eben durch die Nachahmung. Aber -- sehr bemerkenswert! -- pba_520.032 hebt er schon hier auch den entgegengesetzten Fall hervor, ja er stellt pba_520.033 ihn sogar in den Vordergrund, daß auch sehr wohl das Unangenehme pba_520.034 der sollicitierten Leidenschaft jenen Abzug weit pba_520.035 überwiegen könne. Schon dieses widerspricht der nackten Emotions- pba_520.036 und Sollicitationstheorie diametral; denn es tritt damit an den Kunstphilosophen pba_520.037 die gebieterische Aufgabe heran, schon im Princip die pba_520.038 Qualität der Empfindung festzustellen, deren Auferbauung, reine Her-
1pba_520.039 Vgl. Arist. Poetik, Kap. 4.
pba_520.001 citierte Stelle richtet sich gegen Mendelssohns irrtümliche Erklärung der pba_520.002 Jllusion. Mendelssohn hatte das Vergnügen an der künstlerischen Nachahmung pba_520.003 auf die intuitive Erkenntnis der Vollkommenheit derselben pba_520.004 zurückgeführt; diese intuitive Erkenntnis würde uns dadurch zu teil, daß pba_520.005 die vollkommene Nachahmung uns mit demselben Affekte erfüllte wie der pba_520.006 wirkliche Gegenstand, während wir uns doch zugleich der Täuschung bewußt pba_520.007 wären. Lessing weist diese Erklärung an sich zurück; sodann aber pba_520.008 zeigt er, daß der Begriff der Jllusion überhaupt für die künstlerische pba_520.009 Nachahmung gar nicht in Betracht komme. Er bedient sich dabei des pba_520.010 auch schon von Mendelssohn benutzten, so oft und immer wieder mißverstandenen pba_520.011 aristotelischen Beispiels von der gemalten Schlange,1 „die, pba_520.012 wenn wir sie plötzlich erblicken, uns desto besser gefällt, je heftiger wir pba_520.013 darüber erschrocken sind“. Aristoteles spricht an der Stelle nicht von pba_520.014 der Kunst, sondern von dem Ursprung der Kunst und erklärt ihre pba_520.015 ersten rohen Anfänge aus dem Vergnügen, das wir an der Nachahmung pba_520.016 überhaupt empfinden; nicht also von der künstlerischen Nachahmung pba_520.017 ist die Rede, die sich als solche gibt, sondern von der pba_520.018 Nachahmung überhaupt, die im Leben als solche gerade umgekehrt pba_520.019 darauf ausgeht, zu täuschen. Schon diese, sagt Aristoteles, macht pba_520.020 uns Vergnügen, und zwar um so mehr, je gelungener sie ist. Solche pba_520.021 Nachahmungen regten zuerst zu primitiven Kunstversuchen (αὐτοσχεδιάσματα) pba_520.022 an. Die Kunst hat mit jenen auf wirkliche Täuschung berechneten pba_520.023 Nachahmungen weiterhin nichts gemein, als daß auch bei ihr allerdings pba_520.024 noch ein Vergnügen an der Nachahmung als solcher stattfindet, pba_520.025 das aber nur mittelbar und nebengeordnet in Betracht kommt. Genau pba_520.026 ebenso trennt nun Lessing; er unterscheidet die reale Wirkung der Nachahmung pba_520.027 als solcher von der Wirkung der künstlerischen Nachahmung. pba_520.028 Nur für die erste adoptiert er die Dubosschen Sätze von der Leidenschaft, pba_520.029 die uns ein erhöhtes Bewußtsein unserer Realität verleiht und pba_520.030 von dem Wegfall des mit der Wirklichkeit verbundenen Unangenehmen pba_520.031 eben durch die Nachahmung. Aber — sehr bemerkenswert! — pba_520.032 hebt er schon hier auch den entgegengesetzten Fall hervor, ja er stellt pba_520.033 ihn sogar in den Vordergrund, daß auch sehr wohl das Unangenehme pba_520.034 der sollicitierten Leidenschaft jenen Abzug weit pba_520.035 überwiegen könne. Schon dieses widerspricht der nackten Emotions- pba_520.036 und Sollicitationstheorie diametral; denn es tritt damit an den Kunstphilosophen pba_520.037 die gebieterische Aufgabe heran, schon im Princip die pba_520.038 Qualität der Empfindung festzustellen, deren Auferbauung, reine Her-
1pba_520.039 Vgl. Arist. Poetik, Kap. 4.
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citierte Stelle richtet sich gegen Mendelssohns irrtümliche Erklärung der pba_520.002
Jllusion. Mendelssohn hatte das Vergnügen an der künstlerischen Nachahmung pba_520.003
auf die intuitive Erkenntnis der Vollkommenheit derselben pba_520.004
zurückgeführt; diese intuitive Erkenntnis würde uns dadurch zu teil, daß pba_520.005
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wirkliche Gegenstand, während wir uns doch zugleich der Täuschung bewußt pba_520.007
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zeigt er, daß der Begriff der Jllusion überhaupt für die künstlerische pba_520.009
Nachahmung gar nicht in Betracht komme. Er bedient sich dabei des pba_520.010
auch schon von Mendelssohn benutzten, so oft und immer wieder mißverstandenen pba_520.011
aristotelischen Beispiels von der gemalten Schlange, 1 „die, pba_520.012
wenn wir sie plötzlich erblicken, uns desto besser gefällt, je heftiger wir pba_520.013
darüber erschrocken sind“. Aristoteles spricht an der Stelle nicht von pba_520.014
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Nachahmungen regten zuerst zu primitiven Kunstversuchen (αὐτοσχεδιάσματα) pba_520.022
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die gebieterische Aufgabe heran, schon im Princip die pba_520.038
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Vgl. Arist. Poetik, Kap. 4.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/538>, abgerufen am 23.11.2024.
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