pba_498.001 zugung des "bürgerlichen Trauerspiels" als eine absolute Förderung pba_498.002 der tragischen Kunst anzusehen, während sie umgekehrt dem tragischen pba_498.003 Dichter seine Aufgabe in hohem Grade erschwert.
pba_498.004 Wenn nun der große Lehrmeister in diesen Dingen, wenn Lessing pba_498.005 gerade dieser Richtung durch den Jrrtum seiner Theorie die stärkste pba_498.006 Unterstützung lieh, so schien es geboten, alle Kraft der Waffen gegen pba_498.007 denselben ins Feld zu führen.
pba_498.008 Die Konsequenz jener ganzen Erörterung ist diese: wenn es richtig pba_498.009 ist, daß es eine sehr große Zahl von Handlungen, wirklichen oder nachgeahmten, pba_498.010 geben kann, die unser Mitleid anregen, ohne die in uns vorhandene pba_498.011 Furchtdisposition in Bewegung zu setzen, oder doch dieses nur pba_498.012 bei einer beschränkten Anzahl besonders beschaffener oder situierter Menschen pba_498.013 bewirkend, so werden doch auch Handlungen denkbar sein, wirkliche pba_498.014 oder nachgeahmte, welche, indem sie bei allen nicht extrem Gesinnten, pba_498.015 d. h. Leichtsinnigen oder Verzweifelten, Mitleid erregen, zugleich die pba_498.016 Bedingungen in sich vereinigen, bei diesen allen die vorhandene Furchtdisposition pba_498.017 in eine dem erregten Mitleid gleiche oder ähnliche Bewegung pba_498.018 zu setzen. Solche Handlungen hielt Aristoteles für die Nachahmung in pba_498.019 der Tragödie geeignet; er mußte daher, um sie zu charakterisieren, sich pba_498.020 schlechterdings beider Bezeichnungen bedienen.
pba_498.021 Daraus ergibt sich dann weiter, daß, trotz Lessing und allen anderen, pba_498.022 an allen den Stellen, wo in der aristotelischen Poetik "Furcht" pba_498.023 und "Mitleid" durch die disjunktiven Partikel "weder -- noch" und pba_498.024 "entweder -- oder" verbunden sind, diesen Partikeln allerdings ihre pba_498.025 eigentliche disjunktive Kraft beiwohnt. Die besten tragischen Handlungen pba_498.026 sind diejenigen, die durch ihren bloßen Verlauf schon beide Affekte gleich pba_498.027 stark erwecken; es gibt aber tragische Handlungen, und zwar sehr geeignete, pba_498.028 welche zunächst den einen von beiden Affekten als den primären pba_498.029 in besonders hohem Grade zu erregen geeignet sind. Tragisch brauchbar pba_498.030 sind solche Stoffe aber nur in dem Falle, daß sie wenigstens die Disposition pba_498.031 für den verwandten Affekt, als den sekundären, herzustellen vermögen: pba_498.032 die Sache des Dichters wird es sein, durch Verstärkung der dahin pba_498.033 zielenden Umstände, durch die Anwendung aller dazu wirksamen pba_498.034 Mittel diese Disposition nun auch wirklich in Thätigkeit zu setzen. Es pba_498.035 bedarf nur eines abermaligen Hinweises auf den antiken Chor, um an pba_498.036 zahlreiche Beispiele zu erinnern, in denen dieses so überaus wichtige pba_498.037 Jnstitut der alten Tragödie sowohl in Bezug auf das Mitleid als pba_498.038 namentlich in Bezug auf die Furcht jene Aufgabe erfüllt; denn bei der pba_498.039 Mehrzahl der tragischen Stoffe ist es das Mitleid, das als der primäre pba_498.040 Affekt überwiegt. Wenn also Aristoteles von den Stoffen spricht, die
pba_498.001 zugung des „bürgerlichen Trauerspiels“ als eine absolute Förderung pba_498.002 der tragischen Kunst anzusehen, während sie umgekehrt dem tragischen pba_498.003 Dichter seine Aufgabe in hohem Grade erschwert.
pba_498.004 Wenn nun der große Lehrmeister in diesen Dingen, wenn Lessing pba_498.005 gerade dieser Richtung durch den Jrrtum seiner Theorie die stärkste pba_498.006 Unterstützung lieh, so schien es geboten, alle Kraft der Waffen gegen pba_498.007 denselben ins Feld zu führen.
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pba_498.021 Daraus ergibt sich dann weiter, daß, trotz Lessing und allen anderen, pba_498.022 an allen den Stellen, wo in der aristotelischen Poetik „Furcht“ pba_498.023 und „Mitleid“ durch die disjunktiven Partikel „weder — noch“ und pba_498.024 „entweder — oder“ verbunden sind, diesen Partikeln allerdings ihre pba_498.025 eigentliche disjunktive Kraft beiwohnt. Die besten tragischen Handlungen pba_498.026 sind diejenigen, die durch ihren bloßen Verlauf schon beide Affekte gleich pba_498.027 stark erwecken; es gibt aber tragische Handlungen, und zwar sehr geeignete, pba_498.028 welche zunächst den einen von beiden Affekten als den primären pba_498.029 in besonders hohem Grade zu erregen geeignet sind. Tragisch brauchbar pba_498.030 sind solche Stoffe aber nur in dem Falle, daß sie wenigstens die Disposition pba_498.031 für den verwandten Affekt, als den sekundären, herzustellen vermögen: pba_498.032 die Sache des Dichters wird es sein, durch Verstärkung der dahin pba_498.033 zielenden Umstände, durch die Anwendung aller dazu wirksamen pba_498.034 Mittel diese Disposition nun auch wirklich in Thätigkeit zu setzen. Es pba_498.035 bedarf nur eines abermaligen Hinweises auf den antiken Chor, um an pba_498.036 zahlreiche Beispiele zu erinnern, in denen dieses so überaus wichtige pba_498.037 Jnstitut der alten Tragödie sowohl in Bezug auf das Mitleid als pba_498.038 namentlich in Bezug auf die Furcht jene Aufgabe erfüllt; denn bei der pba_498.039 Mehrzahl der tragischen Stoffe ist es das Mitleid, das als der primäre pba_498.040 Affekt überwiegt. Wenn also Aristoteles von den Stoffen spricht, die
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Wenn nun der große Lehrmeister in diesen Dingen, wenn Lessing pba_498.005
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/516>, abgerufen am 22.11.2024.
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