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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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die stets rege, aber im Bewußtsein großer allgemeiner Gesetze über pba_464.002
Selbstsucht und Schwäche hoch erhabene Furcht die Besonnenheit des pba_464.003
Sinnes nähren und das rechte Maß der Haltung befestigen.

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Nur in solcher Betrachtung lassen sich Äußerungen recht verstehen, pba_464.005
wie die berühmte Chorstrophe aus dem Ödipus Koloneus:

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Nie geboren zu werden, ist pba_464.007
Weit das Beste; doch wenn du lebst, pba_464.008
Jst das Zweite, dich schnell dahin pba_464.009
Wieder zu wenden, woher du kamest. pba_464.010
Denn entschwand erst die Jugendzeit,1 pba_464.011
Leichten, thörichten Sinnes voll, pba_464.012
Wer drang weiter noch vielgeplagt, pba_464.013
Wer, nicht mitten in Drangsalsnot? pba_464.014
Mord, Hader, Aufruhr, Kriegeskampf, pba_464.015
Neid und Haß: am düstern Ende pba_464.016
Naht sich verachtet pba_464.017
Öde, kraftlos, aller Freude pba_464.018
Leer, das Alter, dem sich jedes pba_464.019
Wehe des Weh's gesellt hat.

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Finden doch diese bang ergreifenden Dissonanzen in den herrlichen pba_464.021
Schlußaccorden des Ganzen ihre voll beruhigende Auflösung! Wenn pba_464.022
nun, nachdem der Bote von dem geheimnisvoll verklärenden Abscheiden pba_464.023
des Dulders berichtet, in dem Wechselgesange des Chors und der Töchter pba_464.024
des Ödipus die Mitleid- und Furchtempfindungen zum vollkommensten pba_464.025
Gleichgewicht (summetria) verschmelzen:

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Der Chor: pba_464.027
Hört, ihr geliebten edlen Kinder: pba_464.028
Was ein Gott zum Heil gefügt, pba_464.029
Tragt es, den Schmerz bezwingend; noch dürfet ihr nicht verzagen.
1 pba_464.030
Oedip. Col. v. 1230 ff. pba_464.031
Os eut' \an to neon pare pba_464.032
kouphas aphrosunas pheron, pba_464.033
tis plagkhthe polumokhthos exo, pba_464.034
tis ou kamaton eni;
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Die vier Verse sind mit Unrecht von den Herausgebern für verdorben erklärt pba_464.036
und von den Übersetzern willkürlich verändert worden. Der conj. aor. sec. pare ist pba_464.037
von pariem abzuleiten = "nachließ"; das exo des dritten Verses im adverbialen pba_464.038
Sinne von räumlich (übertragen zeitlich) "darüber hinaus" mit plagkhthe zu verbinden. pba_464.039
Also höchst ausdrucksvoll: "Wenn erst die Jugend nachließ (ebbte, entschwand), pba_464.040
wer wurde darüber hinaus verschlagen u. s. w." Die Verse sind pba_464.041
nicht allein dem rechten Sinn des Ganzen gemäß, sondern sie haben demselben einen pba_464.042
hochpoetischen Ausdruck verliehen.

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die stets rege, aber im Bewußtsein großer allgemeiner Gesetze über pba_464.002
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Naht sich verachtet pba_464.017
Öde, kraftlos, aller Freude pba_464.018
Leer, das Alter, dem sich jedes pba_464.019
Wehe des Weh's gesellt hat.

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Finden doch diese bang ergreifenden Dissonanzen in den herrlichen pba_464.021
Schlußaccorden des Ganzen ihre voll beruhigende Auflösung! Wenn pba_464.022
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Oedip. Col. v. 1230 ff. pba_464.031
Ὡς εὖτ' \̓αν τὸ νέον παρῇ pba_464.032
κούφας ἀφροσύνας φέρον, pba_464.033
τίς πλάγχθη πολύμοχθος ἔξὼ, pba_464.034
τίς οὐ καμάτων ἔνι;
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Die vier Verse sind mit Unrecht von den Herausgebern für verdorben erklärt pba_464.036
und von den Übersetzern willkürlich verändert worden. Der conj. aor. sec. παρῇ ist pba_464.037
von παρίημ abzuleiten = „nachließ“; das ἔξω des dritten Verses im adverbialen pba_464.038
Sinne von räumlich (übertragen zeitlich) „darüber hinaus“ mit πλάγχθη zu verbinden. pba_464.039
Also höchst ausdrucksvoll: „Wenn erst die Jugend nachließ (ebbte, entschwand), pba_464.040
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[464/0482] pba_464.001 die stets rege, aber im Bewußtsein großer allgemeiner Gesetze über pba_464.002 Selbstsucht und Schwäche hoch erhabene Furcht die Besonnenheit des pba_464.003 Sinnes nähren und das rechte Maß der Haltung befestigen. pba_464.004 Nur in solcher Betrachtung lassen sich Äußerungen recht verstehen, pba_464.005 wie die berühmte Chorstrophe aus dem Ödipus Koloneus: pba_464.006 Nie geboren zu werden, ist pba_464.007 Weit das Beste; doch wenn du lebst, pba_464.008 Jst das Zweite, dich schnell dahin pba_464.009 Wieder zu wenden, woher du kamest. pba_464.010 Denn entschwand erst die Jugendzeit, 1 pba_464.011 Leichten, thörichten Sinnes voll, pba_464.012 Wer drang weiter noch vielgeplagt, pba_464.013 Wer, nicht mitten in Drangsalsnot? pba_464.014 Mord, Hader, Aufruhr, Kriegeskampf, pba_464.015 Neid und Haß: am düstern Ende pba_464.016 Naht sich verachtet pba_464.017 Öde, kraftlos, aller Freude pba_464.018 Leer, das Alter, dem sich jedes pba_464.019 Wehe des Weh's gesellt hat. pba_464.020 Finden doch diese bang ergreifenden Dissonanzen in den herrlichen pba_464.021 Schlußaccorden des Ganzen ihre voll beruhigende Auflösung! Wenn pba_464.022 nun, nachdem der Bote von dem geheimnisvoll verklärenden Abscheiden pba_464.023 des Dulders berichtet, in dem Wechselgesange des Chors und der Töchter pba_464.024 des Ödipus die Mitleid- und Furchtempfindungen zum vollkommensten pba_464.025 Gleichgewicht (συμμετρία) verschmelzen: pba_464.026 Der Chor: pba_464.027 Hört, ihr geliebten edlen Kinder: pba_464.028 Was ein Gott zum Heil gefügt, pba_464.029 Tragt es, den Schmerz bezwingend; noch dürfet ihr nicht verzagen. 1 pba_464.030 Oedip. Col. v. 1230 ff. pba_464.031 Ὡς εὖτ' \̓αν τὸ νέον παρῇ pba_464.032 κούφας ἀφροσύνας φέρον, pba_464.033 τίς πλάγχθη πολύμοχθος ἔξὼ, pba_464.034 τίς οὐ καμάτων ἔνι; pba_464.035 Die vier Verse sind mit Unrecht von den Herausgebern für verdorben erklärt pba_464.036 und von den Übersetzern willkürlich verändert worden. Der conj. aor. sec. παρῇ ist pba_464.037 von παρίημ abzuleiten = „nachließ“; das ἔξω des dritten Verses im adverbialen pba_464.038 Sinne von räumlich (übertragen zeitlich) „darüber hinaus“ mit πλάγχθη zu verbinden. pba_464.039 Also höchst ausdrucksvoll: „Wenn erst die Jugend nachließ (ebbte, entschwand), pba_464.040 wer wurde darüber hinaus verschlagen u. s. w.“ Die Verse sind pba_464.041 nicht allein dem rechten Sinn des Ganzen gemäß, sondern sie haben demselben einen pba_464.042 hochpoetischen Ausdruck verliehen.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/482>, abgerufen am 22.11.2024.