pba_456.001 alles kommt gegenüber einem Ereignis, welches an sich die Bedingungen pba_456.002 für die Entstehung der Empfindung vereinigt, noch darauf an, wie pba_456.003 wir uns zu demselben verhalten: pos diakeimenoi esmen.
pba_456.004 Nun ist aber nichts einleuchtender, als daß dieselben Ereignisse, pba_456.005 die unsere Furcht erwecken, sobald sie unserer Vorstellung als uns selbst pba_456.006 bevorstehend sich darstellen, uns zum Mitleid bewegen müssen, wenn wir pba_456.007 sehen, daß andere davon betroffen werden oder sie drohend über andern pba_456.008 schweben. Lessing hat trotz aller dagegen erhobenen Einwürfe buchstäblich pba_456.009 recht, wenn er im 76. Stück der Hamburger Dramaturgie sagt: pba_456.010 "Aristoteles war überzeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst pba_456.011 errege, auch unser Mitleid erregen müsse, sobald wir andere damit bedroht pba_456.012 oder davon betroffen erblickten; und daß das eben der Fall der pba_456.013 Tragödie sei, wo wir alle das Übel, welches wir fürchten, nicht uns, pba_456.014 sondern andern begegnen sehen."
pba_456.015 Richtig sagt Lessing auch ferner: Aristoteles habe von einem pba_456.016 Affekte des Mitleids nur gesprochen, sofern er mit Furcht verknüpft pba_456.017 sei; die schwächeren Regungen des Mitleids, die nach Lessing nicht ganz pba_456.018 ohne Furchtempfindung sind, habe er unter dem Philanthropon verstanden, pba_456.019 womit er die Liebe bezeichnet, die der Mensch zu seinesgleichen eben als pba_456.020 Menschen hegt. Lessing that sehr recht, diese allgemein menschliche Teilnahme, pba_456.021 die Aristoteles nicht in seinen Begriff des Eleos hineinzieht, von pba_456.022 dem Begriff des tragischen Mitleids zu sondern, denn unserm gewöhnlichen pba_456.023 Sprachgebrauche nach rechnen wir sie allerdings zum "Mitleide" pba_456.024 hinzu. Wir können "Mitleid" auch mit dem empfinden, der unter den pba_456.025 wohlverdienten Strafen seiner Laster oder Verbrechen leidet; Aristoteles pba_456.026 nennt diese Empfindung "Philanthropie" und empfand "Eleos" pba_456.027 nur bei dem Anblick oder der nahen Erwartung des unverdientenpba_456.028 Leidens anderer.
pba_456.029 Dann aber verfällt Lessing in den großen Fehlschluß, der die ganze pba_456.030 Folgezeit nicht aufgehört hat, die Theorie in die Jrre zu führen: pba_456.031 strenge genommen hätte Aristoteles in eine logische Definition pba_456.032 der Tragödie auch nur die Erwähnung des Mitleids pba_456.033 aufnehmen müssen, da aus demselben ja die Furcht sich von pba_456.034 selbst ergebe; die aristotelische Definition sei aber keine streng pba_456.035 logische, er habe die Furcht nur miterwähnt, um an den vierfachen pba_456.036 gegenseitigen Reinigungsprozeß zu erinnern, den Furcht und Mitleid pba_456.037 aneinander auszuüben hätten. Hier ist Lessing einmal in dem felsenfesten pba_456.038 Vertrauen auf seinen Philosophen wankend geworden, und die pba_456.039 Folgen sind recht schlimme gewesen.
pba_456.040 Man hat sich nun die beiden Empfindungen nicht anders denken
pba_456.001 alles kommt gegenüber einem Ereignis, welches an sich die Bedingungen pba_456.002 für die Entstehung der Empfindung vereinigt, noch darauf an, wie pba_456.003 wir uns zu demselben verhalten: πῶς διακείμενοί ἐσμεν.
pba_456.004 Nun ist aber nichts einleuchtender, als daß dieselben Ereignisse, pba_456.005 die unsere Furcht erwecken, sobald sie unserer Vorstellung als uns selbst pba_456.006 bevorstehend sich darstellen, uns zum Mitleid bewegen müssen, wenn wir pba_456.007 sehen, daß andere davon betroffen werden oder sie drohend über andern pba_456.008 schweben. Lessing hat trotz aller dagegen erhobenen Einwürfe buchstäblich pba_456.009 recht, wenn er im 76. Stück der Hamburger Dramaturgie sagt: pba_456.010 „Aristoteles war überzeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst pba_456.011 errege, auch unser Mitleid erregen müsse, sobald wir andere damit bedroht pba_456.012 oder davon betroffen erblickten; und daß das eben der Fall der pba_456.013 Tragödie sei, wo wir alle das Übel, welches wir fürchten, nicht uns, pba_456.014 sondern andern begegnen sehen.“
pba_456.015 Richtig sagt Lessing auch ferner: Aristoteles habe von einem pba_456.016 Affekte des Mitleids nur gesprochen, sofern er mit Furcht verknüpft pba_456.017 sei; die schwächeren Regungen des Mitleids, die nach Lessing nicht ganz pba_456.018 ohne Furchtempfindung sind, habe er unter dem Philanthropon verstanden, pba_456.019 womit er die Liebe bezeichnet, die der Mensch zu seinesgleichen eben als pba_456.020 Menschen hegt. Lessing that sehr recht, diese allgemein menschliche Teilnahme, pba_456.021 die Aristoteles nicht in seinen Begriff des Eleos hineinzieht, von pba_456.022 dem Begriff des tragischen Mitleids zu sondern, denn unserm gewöhnlichen pba_456.023 Sprachgebrauche nach rechnen wir sie allerdings zum „Mitleide“ pba_456.024 hinzu. Wir können „Mitleid“ auch mit dem empfinden, der unter den pba_456.025 wohlverdienten Strafen seiner Laster oder Verbrechen leidet; Aristoteles pba_456.026 nennt diese Empfindung „Philanthropie“ und empfand „Eleos“ pba_456.027 nur bei dem Anblick oder der nahen Erwartung des unverdientenpba_456.028 Leidens anderer.
pba_456.029 Dann aber verfällt Lessing in den großen Fehlschluß, der die ganze pba_456.030 Folgezeit nicht aufgehört hat, die Theorie in die Jrre zu führen: pba_456.031 strenge genommen hätte Aristoteles in eine logische Definition pba_456.032 der Tragödie auch nur die Erwähnung des Mitleids pba_456.033 aufnehmen müssen, da aus demselben ja die Furcht sich von pba_456.034 selbst ergebe; die aristotelische Definition sei aber keine streng pba_456.035 logische, er habe die Furcht nur miterwähnt, um an den vierfachen pba_456.036 gegenseitigen Reinigungsprozeß zu erinnern, den Furcht und Mitleid pba_456.037 aneinander auszuüben hätten. Hier ist Lessing einmal in dem felsenfesten pba_456.038 Vertrauen auf seinen Philosophen wankend geworden, und die pba_456.039 Folgen sind recht schlimme gewesen.
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alles kommt gegenüber einem Ereignis, welches an sich die Bedingungen pba_456.002
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wir uns zu demselben verhalten: πῶς διακείμενοί ἐσμεν.
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Nun ist aber nichts einleuchtender, als daß dieselben Ereignisse, pba_456.005
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/474>, abgerufen am 22.11.2024.
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