pba_455.001 abhängt: in weit höherem Grade aber wird eine lebhafte Schilderung jenes pba_455.002 Falls die gleiche Wirkung hervorbringen, im höchsten Grade eine lebendige pba_455.003 Vorführung desselben, weil erstlich das "furchtbare" Ereignis der pba_455.004 "Phantasie" um so näher gerückt wird, und sodann es beiden Darstellungsformen, pba_455.005 der epischen wie der dramatischen, in die Hand gegeben pba_455.006 ist, die für die Furchtempfindung empfängliche Dispositionpba_455.007 zugleich bei dem Hörer hervorzubringen.
pba_455.008 Um die Konfusion aber vollständig zu machen, hat man nun außer pba_455.009 der "wirklichen" und der "tragischen" Furcht noch eine dritte, die pba_455.010 "eigentliche" herausgetüftelt, die nach Aristoteles von der tragischen pba_455.011 ganz verschieden sei, da sie zum Mitleid unfähig mache, es vertreibe pba_455.012 (ekkroustikon tou eleou sei). Ein noch schlimmeres Mißverständnis. pba_455.013 Diese Behauptung stellt Aristoteles von keiner Art der Furcht auf, sondern pba_455.014 von einem Schrecklichen, welches geschehen ist, dem deinon. pba_455.015 Man sollte meinen, das sei nicht schwer zu verstehen; und dennoch hat pba_455.016 sich auch um diese einfache Bemerkung eine ganze Gruppe mißdeutender pba_455.017 Scholien angesiedelt. Natürlich! Wenn das Schreckliche eingetreten ist, pba_455.018 kann von Furcht nicht mehr die Rede sein; eine Stimmung tritt bei dem pba_455.019 Betroffenen ein, die die Mitleidsempfindung verdrängt, ja sogar das pba_455.020 Gegenteil derselben zu erzeugen fähig ist, die Freude über fremdes pba_455.021 Leid. Noch aber ist man dem Mitleid zugänglich, solange jenes pba_455.022 Schreckliche droht, eben weil man dann noch Furcht empfindet.
pba_455.023 Alle jene angeblich verschiedenen Gattungen der Furcht existieren pba_455.024 weder bei Aristoteles noch existieren sie überhaupt. Sie entsteht pba_455.025 in allen Fällen aus der Vorstellung eines Übels, das sich der Phantasie pba_455.026 als ein obschwebendes (mellon) darstellt, mag nun die Phantasie pba_455.027 durch einen wirklichen oder durch einen nur vorgestelltenpba_455.028 Vorgang zur Thätigkeit angeregt werden. Ganz und gar also ist das pba_455.029 Eintreten der Furcht von der Vorstellung abhängig: denn es kann ja pba_455.030 auch ein thatsächlich drohendes schweres Übel entweder in der Phantasie pba_455.031 sich fälschlich gar nicht als ein solches darstellen oder mit Bewußtsein pba_455.032 von ihr nicht als ein solches betrachtet werden, und ebenso pba_455.033 kann das umgekehrte Verhältnis eintreten, daß ein gar nicht bevorstehendes pba_455.034 Übel als drohend angesehen wird, oder ein wirklich herannahendes, pba_455.035 aber leichtes irrtümlich als schwer vorgestellt oder mit ganz pba_455.036 richtiger Beurteilung der Sachlage doch individuell so geschätzt wird.
pba_455.037 Jm Seelenzustande des Fürchtenden also liegt das Moderamen pba_455.038 dieser Empfindung: nicht allen ist dasselbe furchtbar, sagt Aristoteles, pba_455.039 und nicht in demselben Grade (s. Nikom. Eth. III, K. 10. 1115b 7). Oder, pba_455.040 wie er es im ersten Kapitel des zweiten Buchs der Rhetorik ausführt:
pba_455.001 abhängt: in weit höherem Grade aber wird eine lebhafte Schilderung jenes pba_455.002 Falls die gleiche Wirkung hervorbringen, im höchsten Grade eine lebendige pba_455.003 Vorführung desselben, weil erstlich das „furchtbare“ Ereignis der pba_455.004 „Phantasie“ um so näher gerückt wird, und sodann es beiden Darstellungsformen, pba_455.005 der epischen wie der dramatischen, in die Hand gegeben pba_455.006 ist, die für die Furchtempfindung empfängliche Dispositionpba_455.007 zugleich bei dem Hörer hervorzubringen.
pba_455.008 Um die Konfusion aber vollständig zu machen, hat man nun außer pba_455.009 der „wirklichen“ und der „tragischen“ Furcht noch eine dritte, die pba_455.010 „eigentliche“ herausgetüftelt, die nach Aristoteles von der tragischen pba_455.011 ganz verschieden sei, da sie zum Mitleid unfähig mache, es vertreibe pba_455.012 (ἐκκρουστικὸν τοῦ ἐλέου sei). Ein noch schlimmeres Mißverständnis. pba_455.013 Diese Behauptung stellt Aristoteles von keiner Art der Furcht auf, sondern pba_455.014 von einem Schrecklichen, welches geschehen ist, dem δεινόν. pba_455.015 Man sollte meinen, das sei nicht schwer zu verstehen; und dennoch hat pba_455.016 sich auch um diese einfache Bemerkung eine ganze Gruppe mißdeutender pba_455.017 Scholien angesiedelt. Natürlich! Wenn das Schreckliche eingetreten ist, pba_455.018 kann von Furcht nicht mehr die Rede sein; eine Stimmung tritt bei dem pba_455.019 Betroffenen ein, die die Mitleidsempfindung verdrängt, ja sogar das pba_455.020 Gegenteil derselben zu erzeugen fähig ist, die Freude über fremdes pba_455.021 Leid. Noch aber ist man dem Mitleid zugänglich, solange jenes pba_455.022 Schreckliche droht, eben weil man dann noch Furcht empfindet.
pba_455.023 Alle jene angeblich verschiedenen Gattungen der Furcht existieren pba_455.024 weder bei Aristoteles noch existieren sie überhaupt. Sie entsteht pba_455.025 in allen Fällen aus der Vorstellung eines Übels, das sich der Phantasie pba_455.026 als ein obschwebendes (μέλλον) darstellt, mag nun die Phantasie pba_455.027 durch einen wirklichen oder durch einen nur vorgestelltenpba_455.028 Vorgang zur Thätigkeit angeregt werden. Ganz und gar also ist das pba_455.029 Eintreten der Furcht von der Vorstellung abhängig: denn es kann ja pba_455.030 auch ein thatsächlich drohendes schweres Übel entweder in der Phantasie pba_455.031 sich fälschlich gar nicht als ein solches darstellen oder mit Bewußtsein pba_455.032 von ihr nicht als ein solches betrachtet werden, und ebenso pba_455.033 kann das umgekehrte Verhältnis eintreten, daß ein gar nicht bevorstehendes pba_455.034 Übel als drohend angesehen wird, oder ein wirklich herannahendes, pba_455.035 aber leichtes irrtümlich als schwer vorgestellt oder mit ganz pba_455.036 richtiger Beurteilung der Sachlage doch individuell so geschätzt wird.
pba_455.037 Jm Seelenzustande des Fürchtenden also liegt das Moderamen pba_455.038 dieser Empfindung: nicht allen ist dasselbe furchtbar, sagt Aristoteles, pba_455.039 und nicht in demselben Grade (s. Nikom. Eth. III, K. 10. 1115b 7). Oder, pba_455.040 wie er es im ersten Kapitel des zweiten Buchs der Rhetorik ausführt:
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wie er es im ersten Kapitel des zweiten Buchs der Rhetorik ausführt:
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abhängt: in weit höherem Grade aber wird eine lebhafte Schilderung jenes pba_455.002
Falls die gleiche Wirkung hervorbringen, im höchsten Grade eine lebendige pba_455.003
Vorführung desselben, weil erstlich das „furchtbare“ Ereignis der pba_455.004
„Phantasie“ um so näher gerückt wird, und sodann es beiden Darstellungsformen, pba_455.005
der epischen wie der dramatischen, in die Hand gegeben pba_455.006
ist, die für die Furchtempfindung empfängliche Disposition pba_455.007
zugleich bei dem Hörer hervorzubringen.
pba_455.008
Um die Konfusion aber vollständig zu machen, hat man nun außer pba_455.009
der „wirklichen“ und der „tragischen“ Furcht noch eine dritte, die pba_455.010
„eigentliche“ herausgetüftelt, die nach Aristoteles von der tragischen pba_455.011
ganz verschieden sei, da sie zum Mitleid unfähig mache, es vertreibe pba_455.012
(ἐκκρουστικὸν τοῦ ἐλέου sei). Ein noch schlimmeres Mißverständnis. pba_455.013
Diese Behauptung stellt Aristoteles von keiner Art der Furcht auf, sondern pba_455.014
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pba_455.023
Alle jene angeblich verschiedenen Gattungen der Furcht existieren pba_455.024
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in allen Fällen aus der Vorstellung eines Übels, das sich der Phantasie pba_455.026
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auch ein thatsächlich drohendes schweres Übel entweder in der Phantasie pba_455.031
sich fälschlich gar nicht als ein solches darstellen oder mit Bewußtsein pba_455.032
von ihr nicht als ein solches betrachtet werden, und ebenso pba_455.033
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Übel als drohend angesehen wird, oder ein wirklich herannahendes, pba_455.035
aber leichtes irrtümlich als schwer vorgestellt oder mit ganz pba_455.036
richtiger Beurteilung der Sachlage doch individuell so geschätzt wird.
pba_455.037
Jm Seelenzustande des Fürchtenden also liegt das Moderamen pba_455.038
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/473>, abgerufen am 23.11.2024.
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