Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_423.001
den jedesmal vorhandenen Lebenszustand immer wieder neu geformt pba_423.002
werden.

pba_423.003
Es wird nun die Aufgabe sein, die Wesensbestimmung der pba_423.004
Tragödie und die verschiedenen Auffassungen derselben näher zu pba_423.005
untersuchen.



pba_423.006
XXII.

pba_423.007
Die Grundlagen für das theoretische Verständnis der Tragödie pba_423.008
hat Lessing neu geschaffen, indem er auf des Aristoteles' Buch "Von pba_423.009
der Dichtkunst" zurückging. "Jch habe," sagt er am Schluß der Dramaturgie, pba_423.010
"von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine pba_423.011
eigenen Gedanken, die ich hier ohne Weitläufigkeit nicht äußern könnte. pba_423.012
Jndes steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen pba_423.013
erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!
), pba_423.014
daß ich sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente pba_423.015
des Euklides nur immer sind. Jhre Grundsätze sind ebenso wahr und pba_423.016
gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt pba_423.017
als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von pba_423.018
der Tragödie, als über die uns die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen pba_423.019
wollen, unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur pba_423.020
des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von pba_423.021
ihrer Vollkommenheit zu entfernen." Und im St. 74: "Zwar mit dem pba_423.022
Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur pba_423.023
auch mit seinen Gründen zu werden wüßte."

pba_423.024
Lessing verdankt die neuere Ästhetik alles, was sie an Klarheit pba_423.025
und Sicherheit besitzt: dennoch hat man neuerdings -- sehr zum Schaden pba_423.026
der Sache -- wieder begonnen, zwischen dem angeblich richtigen Verständnis pba_423.027
der Lehre des Aristoteles von der Tragödie und der richtigen pba_423.028
Erkenntnis der Tragödie selbst einen Unterschied zu machen.

pba_423.029
Es scheint auch hier ein Fortschritt, ernstlich auf Lessing zurückzugehen; pba_423.030
seine Sätze bedürfen nicht allzu tief eingreifender Abänderungen, pba_423.031
um sie sowohl mit der Meinung des Aristoteles als mit dem Kanon, pba_423.032
dem die Meisterwerke der modernen Tragödie ebenso wie die der antiken pba_423.033
folgen, in Uebereinstimmung zu zeigen.

pba_423.034
Nach Aristoteles ist "die Tragödie die Nachahmung einer pba_423.035
Handlung ernsten Jnhalts und in vollständiger Durchführung pba_423.036
und zwar einer solchen, der das Attribut der pba_423.037
Größe zukommt, in künstlerischem Ausdruck, dessen verschiedene pba_423.038
Arten in den einzelnen Teilen gesondert auf-

pba_423.001
den jedesmal vorhandenen Lebenszustand immer wieder neu geformt pba_423.002
werden.

pba_423.003
Es wird nun die Aufgabe sein, die Wesensbestimmung der pba_423.004
Tragödie und die verschiedenen Auffassungen derselben näher zu pba_423.005
untersuchen.



pba_423.006
XXII.

pba_423.007
Die Grundlagen für das theoretische Verständnis der Tragödie pba_423.008
hat Lessing neu geschaffen, indem er auf des Aristoteles' Buch „Von pba_423.009
der Dichtkunst“ zurückging. „Jch habe,“ sagt er am Schluß der Dramaturgie, pba_423.010
„von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine pba_423.011
eigenen Gedanken, die ich hier ohne Weitläufigkeit nicht äußern könnte. pba_423.012
Jndes steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen pba_423.013
erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!
), pba_423.014
daß ich sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente pba_423.015
des Euklides nur immer sind. Jhre Grundsätze sind ebenso wahr und pba_423.016
gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt pba_423.017
als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von pba_423.018
der Tragödie, als über die uns die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen pba_423.019
wollen, unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur pba_423.020
des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von pba_423.021
ihrer Vollkommenheit zu entfernen.“ Und im St. 74: „Zwar mit dem pba_423.022
Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur pba_423.023
auch mit seinen Gründen zu werden wüßte.“

pba_423.024
Lessing verdankt die neuere Ästhetik alles, was sie an Klarheit pba_423.025
und Sicherheit besitzt: dennoch hat man neuerdings — sehr zum Schaden pba_423.026
der Sache — wieder begonnen, zwischen dem angeblich richtigen Verständnis pba_423.027
der Lehre des Aristoteles von der Tragödie und der richtigen pba_423.028
Erkenntnis der Tragödie selbst einen Unterschied zu machen.

pba_423.029
Es scheint auch hier ein Fortschritt, ernstlich auf Lessing zurückzugehen; pba_423.030
seine Sätze bedürfen nicht allzu tief eingreifender Abänderungen, pba_423.031
um sie sowohl mit der Meinung des Aristoteles als mit dem Kanon, pba_423.032
dem die Meisterwerke der modernen Tragödie ebenso wie die der antiken pba_423.033
folgen, in Uebereinstimmung zu zeigen.

pba_423.034
Nach Aristoteles ist „die Tragödie die Nachahmung einer pba_423.035
Handlung ernsten Jnhalts und in vollständiger Durchführung pba_423.036
und zwar einer solchen, der das Attribut der pba_423.037
Größe zukommt, in künstlerischem Ausdruck, dessen verschiedene pba_423.038
Arten in den einzelnen Teilen gesondert auf-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0441" n="423"/><lb n="pba_423.001"/>
den jedesmal vorhandenen Lebenszustand immer wieder neu geformt <lb n="pba_423.002"/>
werden.</p>
        <p><lb n="pba_423.003"/>
Es wird nun die Aufgabe sein, die <hi rendition="#g">Wesensbestimmung</hi> der <lb n="pba_423.004"/> <hi rendition="#g">Tragödie</hi> und die verschiedenen Auffassungen derselben näher zu <lb n="pba_423.005"/>
untersuchen.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <lb n="pba_423.006"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#c">XXII.</hi> </head>
        <p><lb n="pba_423.007"/>
Die Grundlagen für das theoretische Verständnis der Tragödie <lb n="pba_423.008"/>
hat Lessing neu geschaffen, indem er auf des Aristoteles' Buch &#x201E;Von <lb n="pba_423.009"/>
der Dichtkunst&#x201C; zurückging. &#x201E;Jch habe,&#x201C; sagt er am Schluß der Dramaturgie, <lb n="pba_423.010"/>
&#x201E;von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine <lb n="pba_423.011"/>
eigenen Gedanken, die ich hier ohne Weitläufigkeit nicht äußern könnte. <lb n="pba_423.012"/>
Jndes steh' ich <hi rendition="#g">nicht</hi> an, zu bekennen (<hi rendition="#g">und sollte ich in diesen <lb n="pba_423.013"/>
erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!</hi>), <lb n="pba_423.014"/>
daß <hi rendition="#g">ich</hi> sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente <lb n="pba_423.015"/>
des Euklides nur immer sind. Jhre Grundsätze sind ebenso wahr und <lb n="pba_423.016"/>
gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt <lb n="pba_423.017"/>
als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von <lb n="pba_423.018"/>
der Tragödie, als über die uns die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen <lb n="pba_423.019"/>
wollen, unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur <lb n="pba_423.020"/>
des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von <lb n="pba_423.021"/>
ihrer Vollkommenheit zu entfernen.&#x201C; Und im St. 74: &#x201E;Zwar mit dem <lb n="pba_423.022"/>
Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur <lb n="pba_423.023"/>
auch mit seinen Gründen zu werden wüßte.&#x201C;</p>
        <p><lb n="pba_423.024"/>
Lessing verdankt die neuere Ästhetik alles, was sie an Klarheit <lb n="pba_423.025"/>
und Sicherheit besitzt: dennoch hat man neuerdings &#x2014; sehr zum Schaden <lb n="pba_423.026"/>
der Sache &#x2014; wieder begonnen, zwischen dem angeblich richtigen Verständnis <lb n="pba_423.027"/>
der Lehre des Aristoteles von der Tragödie und der richtigen <lb n="pba_423.028"/>
Erkenntnis der Tragödie selbst einen Unterschied zu machen.</p>
        <p><lb n="pba_423.029"/>
Es scheint auch hier ein Fortschritt, ernstlich auf Lessing zurückzugehen; <lb n="pba_423.030"/>
seine Sätze bedürfen nicht allzu tief eingreifender Abänderungen, <lb n="pba_423.031"/>
um sie sowohl mit der Meinung des Aristoteles als mit dem Kanon, <lb n="pba_423.032"/>
dem die Meisterwerke der modernen Tragödie ebenso wie die der antiken <lb n="pba_423.033"/>
folgen, in Uebereinstimmung zu zeigen.</p>
        <p><lb n="pba_423.034"/>
Nach Aristoteles ist &#x201E;<hi rendition="#g">die Tragödie die Nachahmung einer <lb n="pba_423.035"/>
Handlung ernsten Jnhalts und in vollständiger Durchführung <lb n="pba_423.036"/>
und zwar einer solchen, der das Attribut der <lb n="pba_423.037"/>
Größe zukommt, in künstlerischem Ausdruck, dessen verschiedene <lb n="pba_423.038"/>
Arten in den einzelnen Teilen gesondert auf-
</hi></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[423/0441] pba_423.001 den jedesmal vorhandenen Lebenszustand immer wieder neu geformt pba_423.002 werden. pba_423.003 Es wird nun die Aufgabe sein, die Wesensbestimmung der pba_423.004 Tragödie und die verschiedenen Auffassungen derselben näher zu pba_423.005 untersuchen. pba_423.006 XXII. pba_423.007 Die Grundlagen für das theoretische Verständnis der Tragödie pba_423.008 hat Lessing neu geschaffen, indem er auf des Aristoteles' Buch „Von pba_423.009 der Dichtkunst“ zurückging. „Jch habe,“ sagt er am Schluß der Dramaturgie, pba_423.010 „von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine pba_423.011 eigenen Gedanken, die ich hier ohne Weitläufigkeit nicht äußern könnte. pba_423.012 Jndes steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen pba_423.013 erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!), pba_423.014 daß ich sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente pba_423.015 des Euklides nur immer sind. Jhre Grundsätze sind ebenso wahr und pba_423.016 gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt pba_423.017 als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von pba_423.018 der Tragödie, als über die uns die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen pba_423.019 wollen, unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur pba_423.020 des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von pba_423.021 ihrer Vollkommenheit zu entfernen.“ Und im St. 74: „Zwar mit dem pba_423.022 Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur pba_423.023 auch mit seinen Gründen zu werden wüßte.“ pba_423.024 Lessing verdankt die neuere Ästhetik alles, was sie an Klarheit pba_423.025 und Sicherheit besitzt: dennoch hat man neuerdings — sehr zum Schaden pba_423.026 der Sache — wieder begonnen, zwischen dem angeblich richtigen Verständnis pba_423.027 der Lehre des Aristoteles von der Tragödie und der richtigen pba_423.028 Erkenntnis der Tragödie selbst einen Unterschied zu machen. pba_423.029 Es scheint auch hier ein Fortschritt, ernstlich auf Lessing zurückzugehen; pba_423.030 seine Sätze bedürfen nicht allzu tief eingreifender Abänderungen, pba_423.031 um sie sowohl mit der Meinung des Aristoteles als mit dem Kanon, pba_423.032 dem die Meisterwerke der modernen Tragödie ebenso wie die der antiken pba_423.033 folgen, in Uebereinstimmung zu zeigen. pba_423.034 Nach Aristoteles ist „die Tragödie die Nachahmung einer pba_423.035 Handlung ernsten Jnhalts und in vollständiger Durchführung pba_423.036 und zwar einer solchen, der das Attribut der pba_423.037 Größe zukommt, in künstlerischem Ausdruck, dessen verschiedene pba_423.038 Arten in den einzelnen Teilen gesondert auf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/441
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/441>, abgerufen am 14.05.2024.