Rausche, Fluß, das Thal entlang,pba_026.002 Ohne Rast und Ruh,pba_026.003 Rausche, flüstre meinem Sangpba_026.004 Melodien zu,
pba_026.005 Wenn du in der Winternachtpba_026.006 Wütend überschwillst,pba_026.007 Oder um die Frühlingsprachtpba_026.008 Junger Knospen quillst.
pba_026.009 Selig, wer sich vor der Weltpba_026.010 Ohne Haß verschließt,pba_026.011 Einen Freund am Busen hältpba_026.012 Und mit dem genießt,
pba_026.013 Was von Menschen nicht gewußt,pba_026.014 Oder nicht bedacht,pba_026.015 Durch das Labyrinth der Brustpba_026.016 Wandelt in der Nacht.
pba_026.017 Es ist der Zustand völliger, tiefster Stille der Seele, der aus diesen pba_026.018 wundervollen Strophen sich uns mitteilt, aber einer Stille, die über die pba_026.019 gedrängte Fülle stärkster Empfindungen und reichster Erinnerungen sich pba_026.020 breitet; als ob die in rastlosem Wechsel zahllos thätigen, zu Genuß und pba_026.021 Schmerzen immer erneut aufregenden Lebenskräfte nun dem rückwärts pba_026.022 gewandten Bewußtsein alle zugleich sich darbietend in ruhendem Gleichgewichte pba_026.023 weithin sich ausbreiten, keine das Gemüt beherrschend, alle doch pba_026.024 zugleich ihm gegenwärtig, ganz gelöst die Seele und doch zugleich schwellend pba_026.025 von der unendlichen Fülle der regsten Energien! -- Koexistenz in des pba_026.026 Wortes striktester Bedeutung, in dem dargestellten Seelenzustande wie pba_026.027 in dem Bilde des mondüberglänzten Thales mit seinen Gebüschen und pba_026.028 mit seinem ruhig hingleitenden Flusse! Nur einen Augenblick wandelt die pba_026.029 entrückte Phantasie sich das ruhende Bild zu einer Analogie künftiger pba_026.030 Gesänge, um sogleich wieder dem Schweigen der Mondnacht hingegeben pba_026.031 in sich selbst zu versinken. Allein auch dieses scheinbare "Nacheinander" pba_026.032 ist doch im Grunde nur ein "Nebeneinander", und es ist lediglich pba_026.033 das technische Moment der zeitlichen Wortfolge, welches zwingt, die zeitlich pba_026.034 durchaus koexistenten Stimmungselemente in Succession vorzuführen. pba_026.035 Will man das eine "Handlung" nennen, so ist in diesempba_026.036 Sinne ganz ebenso die "Folge von Gegenständen oder deren Teilen" in pba_026.037 jeder Hallerschen, Brockesschen oder Hoffmannswaldauschen Beschreibung pba_026.038 nachzuweisen.
pba_026.039 Man sehe die ganze Reihe der Goetheschen Lieder an, z. B. "Meeresstille", pba_026.040 "Herbstgefühl", "Frühzeitiger Frühling", Mignons "Kennst du
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Rausche, Fluß, das Thal entlang,pba_026.002 Ohne Rast und Ruh,pba_026.003 Rausche, flüstre meinem Sangpba_026.004 Melodien zu,
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pba_026.013 Was von Menschen nicht gewußt,pba_026.014 Oder nicht bedacht,pba_026.015 Durch das Labyrinth der Brustpba_026.016 Wandelt in der Nacht.
pba_026.017 Es ist der Zustand völliger, tiefster Stille der Seele, der aus diesen pba_026.018 wundervollen Strophen sich uns mitteilt, aber einer Stille, die über die pba_026.019 gedrängte Fülle stärkster Empfindungen und reichster Erinnerungen sich pba_026.020 breitet; als ob die in rastlosem Wechsel zahllos thätigen, zu Genuß und pba_026.021 Schmerzen immer erneut aufregenden Lebenskräfte nun dem rückwärts pba_026.022 gewandten Bewußtsein alle zugleich sich darbietend in ruhendem Gleichgewichte pba_026.023 weithin sich ausbreiten, keine das Gemüt beherrschend, alle doch pba_026.024 zugleich ihm gegenwärtig, ganz gelöst die Seele und doch zugleich schwellend pba_026.025 von der unendlichen Fülle der regsten Energien! — Koexistenz in des pba_026.026 Wortes striktester Bedeutung, in dem dargestellten Seelenzustande wie pba_026.027 in dem Bilde des mondüberglänzten Thales mit seinen Gebüschen und pba_026.028 mit seinem ruhig hingleitenden Flusse! Nur einen Augenblick wandelt die pba_026.029 entrückte Phantasie sich das ruhende Bild zu einer Analogie künftiger pba_026.030 Gesänge, um sogleich wieder dem Schweigen der Mondnacht hingegeben pba_026.031 in sich selbst zu versinken. Allein auch dieses scheinbare „Nacheinander“ pba_026.032 ist doch im Grunde nur ein „Nebeneinander“, und es ist lediglich pba_026.033 das technische Moment der zeitlichen Wortfolge, welches zwingt, die zeitlich pba_026.034 durchaus koexistenten Stimmungselemente in Succession vorzuführen. pba_026.035 Will man das eine „Handlung“ nennen, so ist in diesempba_026.036 Sinne ganz ebenso die „Folge von Gegenständen oder deren Teilen“ in pba_026.037 jeder Hallerschen, Brockesschen oder Hoffmannswaldauschen Beschreibung pba_026.038 nachzuweisen.
pba_026.039 Man sehe die ganze Reihe der Goetheschen Lieder an, z. B. „Meeresstille“, pba_026.040 „Herbstgefühl“, „Frühzeitiger Frühling“, Mignons „Kennst du
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Rausche, Fluß, das Thal entlang, pba_026.002
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Rausche, flüstre meinem Sang pba_026.004
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Selig, wer sich vor der Welt pba_026.010
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Wandelt in der Nacht.
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Es ist der Zustand völliger, tiefster Stille der Seele, der aus diesen pba_026.018
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pba_026.039
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„Herbstgefühl“, „Frühzeitiger Frühling“, Mignons „Kennst du
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/44>, abgerufen am 21.11.2024.
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