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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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belebter Schaustellung von Einzelmomenten zu geben, die, selbst wenn pba_346.002
die Reihenfolge der Bilder noch so kunstreich verknüpft ist, der weit pba_346.003
angelegten äußeren und inneren Motivierung, zu deren Abschluß sie einzig pba_346.004
und allein bestimmt sind, immer entbehren werden. Jn den Nebenhandlungen pba_346.005
können sich echt dramatische Stoffe finden; so deutet das pba_346.006
Homerische Epos den Stoff zum Ajas wenigstens an (Odyssee: II, pba_346.007
543 ff.). Aber auch derartige, noch so günstige Stoffe sind untauglich, pba_346.008
wenn sie mit der Katastrophe des Ganzen unauflöslich verbunden sind. pba_346.009
An diesem Umstande muß jeder Versuch, den Charakter Rüdigers und pba_346.010
sein tragisches Schicksal zum Mittelpunkt einer dramatischen Darstellung pba_346.011
zu machen, scheitern; tragisch ist der Stoff im höchsten Grade, aber pba_346.012
ebenso im höchsten Grade episch. Ebenso wie Siegfrieds Tod pba_346.013
ist Rüdigers Untergang so unbedingt auf die Voraussetzungen des pba_346.014
Ganzen des Nibelungenepos gestellt, daß der eine und der andere pba_346.015
nicht ohne den Beginn, die Mitte und das Ende desselben vorgeführt pba_346.016
werden kann; geschieht es dennoch, so geschieht es um den Preis, daß pba_346.017
das wesentlichste Bedingnis, das für die künstlerische Nachahmung von pba_346.018
Handlungen überhaupt vorhanden ist, die Vollständigkeit, geopfert pba_346.019
wird. Durch alle derartigen Experimente, die aus dem Jrrtum pba_346.020
hervorgehen, das Tragische müßte immer zugleich auch pba_346.021
dramatisch sein,
geraten alle Dimensionen des Stoffes in eine solche pba_346.022
Verschiebung und Disproportion, daß keine Kunst den inneren Widerspruch pba_346.023
zwischen dem Wesen der Handlung und der ihr fremden Form pba_346.024
aufzuheben imstande ist.

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Nach so weitem Umwege kann nun die Untersuchung zu der Frage pba_346.026
zurückkehren, von der sie ausging: Sind gute Handlungen mit pba_346.027
glücklichem Ausgange für die poetische Nachahmung geeignet?

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Mit anderen Worten lautet die Frage, da sie für das Epos ja pba_346.030
entschieden ist: Steht dem Jdyll eine analoge dramatische Gattung pba_346.031
gegenüber? Was hat sie für eine Berechtigung, wie pba_346.032
ist ihre Gesetzgebung beschaffen?

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Daß auf diesem Gebiete große Unsicherheit herrscht, zeigt schon die pba_346.034
übliche Namengebung. Was Trauerspiel oder Lustspiel ist oder sein pba_346.035
will, gibt sich deutlich genug kund. Nun begegnet aber auf dem Gebiete pba_346.036
zwischen beiden eine große und mannigfach verschiedene Zahl von pba_346.037
Dramen, in denen bald die rührenden, bald die erheiternden Züge pba_346.038
überwiegen, bald auch beide gleichberechtigt nebeneinander auftreten, pba_346.039
oder auch wohl entweder beide vor dem wuchtigen Ernst des Ganzen pba_346.040
zurücktreten oder zu Gunsten einer ganz freien, phantastischen Stimmung

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belebter Schaustellung von Einzelmomenten zu geben, die, selbst wenn pba_346.002
die Reihenfolge der Bilder noch so kunstreich verknüpft ist, der weit pba_346.003
angelegten äußeren und inneren Motivierung, zu deren Abschluß sie einzig pba_346.004
und allein bestimmt sind, immer entbehren werden. Jn den Nebenhandlungen pba_346.005
können sich echt dramatische Stoffe finden; so deutet das pba_346.006
Homerische Epos den Stoff zum Ajas wenigstens an (Odyssee: II, pba_346.007
543 ff.). Aber auch derartige, noch so günstige Stoffe sind untauglich, pba_346.008
wenn sie mit der Katastrophe des Ganzen unauflöslich verbunden sind. pba_346.009
An diesem Umstande muß jeder Versuch, den Charakter Rüdigers und pba_346.010
sein tragisches Schicksal zum Mittelpunkt einer dramatischen Darstellung pba_346.011
zu machen, scheitern; tragisch ist der Stoff im höchsten Grade, aber pba_346.012
ebenso im höchsten Grade episch. Ebenso wie Siegfrieds Tod pba_346.013
ist Rüdigers Untergang so unbedingt auf die Voraussetzungen des pba_346.014
Ganzen des Nibelungenepos gestellt, daß der eine und der andere pba_346.015
nicht ohne den Beginn, die Mitte und das Ende desselben vorgeführt pba_346.016
werden kann; geschieht es dennoch, so geschieht es um den Preis, daß pba_346.017
das wesentlichste Bedingnis, das für die künstlerische Nachahmung von pba_346.018
Handlungen überhaupt vorhanden ist, die Vollständigkeit, geopfert pba_346.019
wird. Durch alle derartigen Experimente, die aus dem Jrrtum pba_346.020
hervorgehen, das Tragische müßte immer zugleich auch pba_346.021
dramatisch sein,
geraten alle Dimensionen des Stoffes in eine solche pba_346.022
Verschiebung und Disproportion, daß keine Kunst den inneren Widerspruch pba_346.023
zwischen dem Wesen der Handlung und der ihr fremden Form pba_346.024
aufzuheben imstande ist.

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Nach so weitem Umwege kann nun die Untersuchung zu der Frage pba_346.026
zurückkehren, von der sie ausging: Sind gute Handlungen mit pba_346.027
glücklichem Ausgange für die poetische Nachahmung geeignet?

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Mit anderen Worten lautet die Frage, da sie für das Epos ja pba_346.030
entschieden ist: Steht dem Jdyll eine analoge dramatische Gattung pba_346.031
gegenüber? Was hat sie für eine Berechtigung, wie pba_346.032
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Daß auf diesem Gebiete große Unsicherheit herrscht, zeigt schon die pba_346.034
übliche Namengebung. Was Trauerspiel oder Lustspiel ist oder sein pba_346.035
will, gibt sich deutlich genug kund. Nun begegnet aber auf dem Gebiete pba_346.036
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überwiegen, bald auch beide gleichberechtigt nebeneinander auftreten, pba_346.039
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[346/0364] pba_346.001 belebter Schaustellung von Einzelmomenten zu geben, die, selbst wenn pba_346.002 die Reihenfolge der Bilder noch so kunstreich verknüpft ist, der weit pba_346.003 angelegten äußeren und inneren Motivierung, zu deren Abschluß sie einzig pba_346.004 und allein bestimmt sind, immer entbehren werden. Jn den Nebenhandlungen pba_346.005 können sich echt dramatische Stoffe finden; so deutet das pba_346.006 Homerische Epos den Stoff zum Ajas wenigstens an (Odyssee: II, pba_346.007 543 ff.). Aber auch derartige, noch so günstige Stoffe sind untauglich, pba_346.008 wenn sie mit der Katastrophe des Ganzen unauflöslich verbunden sind. pba_346.009 An diesem Umstande muß jeder Versuch, den Charakter Rüdigers und pba_346.010 sein tragisches Schicksal zum Mittelpunkt einer dramatischen Darstellung pba_346.011 zu machen, scheitern; tragisch ist der Stoff im höchsten Grade, aber pba_346.012 ebenso im höchsten Grade episch. Ebenso wie Siegfrieds Tod pba_346.013 ist Rüdigers Untergang so unbedingt auf die Voraussetzungen des pba_346.014 Ganzen des Nibelungenepos gestellt, daß der eine und der andere pba_346.015 nicht ohne den Beginn, die Mitte und das Ende desselben vorgeführt pba_346.016 werden kann; geschieht es dennoch, so geschieht es um den Preis, daß pba_346.017 das wesentlichste Bedingnis, das für die künstlerische Nachahmung von pba_346.018 Handlungen überhaupt vorhanden ist, die Vollständigkeit, geopfert pba_346.019 wird. Durch alle derartigen Experimente, die aus dem Jrrtum pba_346.020 hervorgehen, das Tragische müßte immer zugleich auch pba_346.021 dramatisch sein, geraten alle Dimensionen des Stoffes in eine solche pba_346.022 Verschiebung und Disproportion, daß keine Kunst den inneren Widerspruch pba_346.023 zwischen dem Wesen der Handlung und der ihr fremden Form pba_346.024 aufzuheben imstande ist. pba_346.025 Nach so weitem Umwege kann nun die Untersuchung zu der Frage pba_346.026 zurückkehren, von der sie ausging: Sind gute Handlungen mit pba_346.027 glücklichem Ausgange für die poetische Nachahmung geeignet? pba_346.028 pba_346.029 Mit anderen Worten lautet die Frage, da sie für das Epos ja pba_346.030 entschieden ist: Steht dem Jdyll eine analoge dramatische Gattung pba_346.031 gegenüber? Was hat sie für eine Berechtigung, wie pba_346.032 ist ihre Gesetzgebung beschaffen? pba_346.033 Daß auf diesem Gebiete große Unsicherheit herrscht, zeigt schon die pba_346.034 übliche Namengebung. Was Trauerspiel oder Lustspiel ist oder sein pba_346.035 will, gibt sich deutlich genug kund. Nun begegnet aber auf dem Gebiete pba_346.036 zwischen beiden eine große und mannigfach verschiedene Zahl von pba_346.037 Dramen, in denen bald die rührenden, bald die erheiternden Züge pba_346.038 überwiegen, bald auch beide gleichberechtigt nebeneinander auftreten, pba_346.039 oder auch wohl entweder beide vor dem wuchtigen Ernst des Ganzen pba_346.040 zurücktreten oder zu Gunsten einer ganz freien, phantastischen Stimmung

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/364>, abgerufen am 25.11.2024.