pba_328.001 durch unwillkürlich und wie durch magischen Zwang in diejenigen Zeiten pba_328.002 und Sittenzustände zurückversetzt, deren Schilderung die nächste Aufgabe pba_328.003 des Dichters ist. Wir verstehen den Geist dieser Zeiten selbst in seiner pba_328.004 detailliertesten Entfaltung gleichsam plötzlich und ohne gelehrte Jnterpretation pba_328.005 besser als durch langatmige historische und antiquarische Auseinandersetzungen; pba_328.006 wir verkehren mit dem Ritter und der Priorin, mit pba_328.007 dem Bettelmönch und dem Ablaßkrämer wie mit alten Bekannten, als pba_328.008 sähen wir sie täglich; als hätten wir sie erst gestern gesehen."
pba_328.009 "Es versteht sich von selbst, daß die Beobachtungsgabe des Dichters, pba_328.010 durch den Verkehr mit vielerlei Menschen am Hof, im Felde und auf pba_328.011 Reisen geschärft, ihm unendlich mehr Eindrücke von Unzulänglichem, pba_328.012 Verkehrtem, Hinfälligem zugeführt hat als von Vollendetem, Schönem, pba_328.013 Erhabenem. Er verschließt sich nun zwar weder der aufrichtigen Begeisterung pba_328.014 für das Edle, noch dem tiefen Abscheu gegen das Böse. Er pba_328.015 hält der Tugend einen ebenso getreuen Spiegel vor als dem Laster. pba_328.016 Aber die natürliche Heiterkeit des Dichters, die Grundstimmung seines pba_328.017 Gemütes, wendet sich am liebsten den gemischten und unvollendeten pba_328.018 Charakteren zu, die das Leben bunt und unterhaltend machen -- und pba_328.019 die einen Spaß vertragen."
pba_328.020 Aber wenn ohne Frage Chaucers Hauptstärke in seiner komischen pba_328.021 Charakterzeichnung liegt, so ist doch weder seine Satire einseitig und pba_328.022 pedantisch oder lehrhaft, noch seine Jronie überhebend oder superklug, pba_328.023 sondern durchweg objektiv und immer heiter: "es liegt darin das gutmütige pba_328.024 Eingeständnis, daß Jedermann hienieden, daß auch er, der Dichter, pba_328.025 sein Stückchen Thorheit trage, daß wir alle des Ruhmes mangeln, den pba_328.026 wir haben sollen, nicht nur weil wir allzumal Sünder, sondern auch -- pba_328.027 mehr oder weniger -- allzumal Narren sind. Damit ist auf den feinsten pba_328.028 und merkwürdigsten Zug in Chaucers dichterischem Charakter hingewiesen pba_328.029 -- auf einen Zug, der von allen Dichtern der Welt bei ihm zuerst pba_328.030 zur klaren Entfaltung gekommen, der seitdem der eigenste und ohne pba_328.031 Zweifel der liebenswürdigste Zug des englischen Volkscharakters geworden pba_328.032 ist: Chaucer ist der erste Humorist."
pba_328.033 Dieser große Dichter hat weder in England noch sonst irgendwo pba_328.034 seinesgleichen gefunden; die humoristische poetische Erzählung wie vollends pba_328.035 das komische Epos sind verkümmerte Zweige am Baum der Poesie geblieben. pba_328.036 Die berühmten, sogenannten Musterstücke der Gattung verdanken pba_328.037 ihr Ansehen entweder ganz und gar dem parodisch-satirischen pba_328.038 Element wie Tassonis "Eimerraub", Boileaus "Lutrin" oder Popespba_328.039 "Lockenraub", oder sie sind rein satirisch und einseitig eifernd wie pba_328.040 Butlers "Hudibras", oder lediglich Burlesken wie Kortüms "Jobsiade",
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pba_328.009 „Es versteht sich von selbst, daß die Beobachtungsgabe des Dichters, pba_328.010 durch den Verkehr mit vielerlei Menschen am Hof, im Felde und auf pba_328.011 Reisen geschärft, ihm unendlich mehr Eindrücke von Unzulänglichem, pba_328.012 Verkehrtem, Hinfälligem zugeführt hat als von Vollendetem, Schönem, pba_328.013 Erhabenem. Er verschließt sich nun zwar weder der aufrichtigen Begeisterung pba_328.014 für das Edle, noch dem tiefen Abscheu gegen das Böse. Er pba_328.015 hält der Tugend einen ebenso getreuen Spiegel vor als dem Laster. pba_328.016 Aber die natürliche Heiterkeit des Dichters, die Grundstimmung seines pba_328.017 Gemütes, wendet sich am liebsten den gemischten und unvollendeten pba_328.018 Charakteren zu, die das Leben bunt und unterhaltend machen — und pba_328.019 die einen Spaß vertragen.“
pba_328.020 Aber wenn ohne Frage Chaucers Hauptstärke in seiner komischen pba_328.021 Charakterzeichnung liegt, so ist doch weder seine Satire einseitig und pba_328.022 pedantisch oder lehrhaft, noch seine Jronie überhebend oder superklug, pba_328.023 sondern durchweg objektiv und immer heiter: „es liegt darin das gutmütige pba_328.024 Eingeständnis, daß Jedermann hienieden, daß auch er, der Dichter, pba_328.025 sein Stückchen Thorheit trage, daß wir alle des Ruhmes mangeln, den pba_328.026 wir haben sollen, nicht nur weil wir allzumal Sünder, sondern auch — pba_328.027 mehr oder weniger — allzumal Narren sind. Damit ist auf den feinsten pba_328.028 und merkwürdigsten Zug in Chaucers dichterischem Charakter hingewiesen pba_328.029 — auf einen Zug, der von allen Dichtern der Welt bei ihm zuerst pba_328.030 zur klaren Entfaltung gekommen, der seitdem der eigenste und ohne pba_328.031 Zweifel der liebenswürdigste Zug des englischen Volkscharakters geworden pba_328.032 ist: Chaucer ist der erste Humorist.“
pba_328.033 Dieser große Dichter hat weder in England noch sonst irgendwo pba_328.034 seinesgleichen gefunden; die humoristische poetische Erzählung wie vollends pba_328.035 das komische Epos sind verkümmerte Zweige am Baum der Poesie geblieben. pba_328.036 Die berühmten, sogenannten Musterstücke der Gattung verdanken pba_328.037 ihr Ansehen entweder ganz und gar dem parodisch-satirischen pba_328.038 Element wie Tassonis „Eimerraub“, Boileaus „Lutrin“ oder Popespba_328.039 „Lockenraub“, oder sie sind rein satirisch und einseitig eifernd wie pba_328.040 Butlers „Hudibras“, oder lediglich Burlesken wie Kortüms „Jobsiade“,
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/346>, abgerufen am 27.11.2024.
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