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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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dem, wenn auch äußerlich dem Gedichte die strenge Einheit zu fehlen pba_288.002
scheint, doch im Grunde ein jeder Teil der weitverzweigten Handlung pba_288.003
untergeordnet ist; dagegen ist Wolfram der, in seinem Falle allerdings pba_288.004
weit schwierigeren Aufgabe, die jenen Schicksalsverlauf bedingende psychologische pba_288.005
Entwickelung in Handlung darzustellen, bei weitem nicht in dem pba_288.006
Grade gerecht geworden, wie sein rivalisierender Zeitgenosse Gottfried. pba_288.007
Während dieser es mit der bloßen Andeutung des überlieferten Symboles pba_288.008
sein Bewenden haben läßt und dafür der sachlichen und ethischen pba_288.009
Entfaltung der Handlung in vollster Breite ihr Recht geschehen läßt, pba_288.010
begnügt sich Wolfram an allen wichtigen Wendepunkten der inneren pba_288.011
Handlung fast allein mit der allerdings höchst umständlichen Vorführung pba_288.012
der symbolischen oder auch allegorischen Handlung, der er umgekehrt die pba_288.013
direkte Darstellung psychologisch-ethischer Zustände nur andeutend hinzufügt. pba_288.014
Aber so entscheidend ist jener erste, fundamentale Vorzug, die pba_288.015
Bewahrung der einheitlichen Gesamtanlage, daß ihm nichtsdestoweniger pba_288.016
und trotz der glänzenden Meisterschaft Gottfrieds mit Recht vor diesem pba_288.017
der Preis zugesprochen wird.

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Der Parzival ist ein ethisches Epos, das heißt also seine Handlung pba_288.019
ist in ihrem Verlauf nicht so sehr durch die von außen herzutretenden pba_288.020
Geschicke als vielmehr durch die von innen heraus wirkenden pba_288.021
Seelenzustände des Helden bedingt; die Handlung ist ferner eine verwickelte, pba_288.022
und zwar durch Peripetie und Erkennung, welche sich in pba_288.023
diesem Falle auf die Sache bezieht. Der Held geht gerade durch die pba_288.024
Art, wie er sein Ziel zu erreichen strebt, desselben nicht allein verlustig, pba_288.025
sondern er erreicht damit das Gegenteil desselben, welches für ihn mit pba_288.026
einem völligen Glückswechsel verbunden ist; durch die Erkennung des pba_288.027
Zieles sowohl als des wahren Verhältnisses zwischen dessen Beschaffenheit pba_288.028
und seinem Streben wird er dann in den Stand gesetzt, es zu erringen pba_288.029
und damit einen abermaligen, diesesmal günstigen Glückswechsel zu bewirken. pba_288.030
Auch Gottfrieds Epos -- um zur Vergleichung auch über pba_288.031
dieses ein abschließend formuliertes Urteil hinzuzufügen -- ist ethisch, pba_288.032
aber seine Handlung ist einfach, sie führt in gerader Linie zu ihrem pba_288.033
Ziel: dieses Ziel mußte schweres Leiden der Betheiligten sein, die epische pba_288.034
Handlung müßte damit den Charakter des Pathetischen -- des "Leidvollen" pba_288.035
in dem oben definierten aristotelischen Sinne -- erhalten; pba_288.036
aber dieser Grundcharakter der Handlung dürfte sich keineswegs allein pba_288.037
im Ausgange offenbaren, sondern müßte dem gesamten Epos seine pba_288.038
Färbung geben. Daß diese Färbung der Dichtung Gottfrieds fehlt, pba_288.039
zerstört ihren einheitlichen Grundcharakter -- und würde ihn ebenso pba_288.040
zerstören, wenn auch der Dichter das unglückliche Ende des Helden und

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dem, wenn auch äußerlich dem Gedichte die strenge Einheit zu fehlen pba_288.002
scheint, doch im Grunde ein jeder Teil der weitverzweigten Handlung pba_288.003
untergeordnet ist; dagegen ist Wolfram der, in seinem Falle allerdings pba_288.004
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Entwickelung in Handlung darzustellen, bei weitem nicht in dem pba_288.006
Grade gerecht geworden, wie sein rivalisierender Zeitgenosse Gottfried. pba_288.007
Während dieser es mit der bloßen Andeutung des überlieferten Symboles pba_288.008
sein Bewenden haben läßt und dafür der sachlichen und ethischen pba_288.009
Entfaltung der Handlung in vollster Breite ihr Recht geschehen läßt, pba_288.010
begnügt sich Wolfram an allen wichtigen Wendepunkten der inneren pba_288.011
Handlung fast allein mit der allerdings höchst umständlichen Vorführung pba_288.012
der symbolischen oder auch allegorischen Handlung, der er umgekehrt die pba_288.013
direkte Darstellung psychologisch-ethischer Zustände nur andeutend hinzufügt. pba_288.014
Aber so entscheidend ist jener erste, fundamentale Vorzug, die pba_288.015
Bewahrung der einheitlichen Gesamtanlage, daß ihm nichtsdestoweniger pba_288.016
und trotz der glänzenden Meisterschaft Gottfrieds mit Recht vor diesem pba_288.017
der Preis zugesprochen wird.

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Der Parzival ist ein ethisches Epos, das heißt also seine Handlung pba_288.019
ist in ihrem Verlauf nicht so sehr durch die von außen herzutretenden pba_288.020
Geschicke als vielmehr durch die von innen heraus wirkenden pba_288.021
Seelenzustände des Helden bedingt; die Handlung ist ferner eine verwickelte, pba_288.022
und zwar durch Peripetie und Erkennung, welche sich in pba_288.023
diesem Falle auf die Sache bezieht. Der Held geht gerade durch die pba_288.024
Art, wie er sein Ziel zu erreichen strebt, desselben nicht allein verlustig, pba_288.025
sondern er erreicht damit das Gegenteil desselben, welches für ihn mit pba_288.026
einem völligen Glückswechsel verbunden ist; durch die Erkennung des pba_288.027
Zieles sowohl als des wahren Verhältnisses zwischen dessen Beschaffenheit pba_288.028
und seinem Streben wird er dann in den Stand gesetzt, es zu erringen pba_288.029
und damit einen abermaligen, diesesmal günstigen Glückswechsel zu bewirken. pba_288.030
Auch Gottfrieds Epos — um zur Vergleichung auch über pba_288.031
dieses ein abschließend formuliertes Urteil hinzuzufügen — ist ethisch, pba_288.032
aber seine Handlung ist einfach, sie führt in gerader Linie zu ihrem pba_288.033
Ziel: dieses Ziel mußte schweres Leiden der Betheiligten sein, die epische pba_288.034
Handlung müßte damit den Charakter des Pathetischen — des „Leidvollenpba_288.035
in dem oben definierten aristotelischen Sinne — erhalten; pba_288.036
aber dieser Grundcharakter der Handlung dürfte sich keineswegs allein pba_288.037
im Ausgange offenbaren, sondern müßte dem gesamten Epos seine pba_288.038
Färbung geben. Daß diese Färbung der Dichtung Gottfrieds fehlt, pba_288.039
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/306>, abgerufen am 25.11.2024.