Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_283.001 1 pba_283.027
Jch führe die schöne Stelle nach dem R. Bechsteinschen Texte (mit Hinzufügung pba_283.028 der Simrockschen Übersetzung) hier an, da sie in hohem Grade geeignet ist, darzuthun, pba_283.029 in wie absichtlicher Weise Gottfried seine Schilderung der echten Liebe der konventionellen pba_283.030 Entartung des Minnewesens entgegenstellte. Er fügt der Erzählung, wie nun Tristan pba_283.031 und Jsolde ihren Liebesbund besiegelt haben, das Folgende hinzu (s. XVII, V. 12204 ff.): pba_283.032 [Beginn Spaltensatz] ich han von in zwein vil gedaht pba_283.033 [Spaltenumbruch] pba_283.101und gedenke hiute und alle tage; pba_283.034 swenne ich liebe und senede klage pba_283.035 vür meiniu ougen breite pba_283.036 und ir gelegenheite pba_283.037 in meinem herzen ahte, pba_283.038 so wahsent mein trahte pba_283.039 und muot mein hergeselle, pba_283.040 als er in die wolken welle. pba_283.041 swenn' ich bedenke sunder Über beide hab' ich viel gedacht pba_283.102 [Ende Spaltensatz]Und denke heut und allezeit: pba_283.103 Wenn ich Liebeslust und Leid pba_283.104 Mir will vor Augen breiten, pba_283.105 Jhr Wechseln und ihr Streiten pba_283.106 Jm Herzen zu betrachten, pba_283.107 So wächst mein sehnlich Trachten pba_283.108 Und Mut, mein Heergeselle, pba_283.109 Als ob er in den Himmel schwelle. pba_283.110 Wenn ich der Wunder denke, pba_283.001 1 pba_283.027
Jch führe die schöne Stelle nach dem R. Bechsteinschen Texte (mit Hinzufügung pba_283.028 der Simrockschen Übersetzung) hier an, da sie in hohem Grade geeignet ist, darzuthun, pba_283.029 in wie absichtlicher Weise Gottfried seine Schilderung der echten Liebe der konventionellen pba_283.030 Entartung des Minnewesens entgegenstellte. Er fügt der Erzählung, wie nun Tristan pba_283.031 und Jsolde ihren Liebesbund besiegelt haben, das Folgende hinzu (s. XVII, V. 12204 ff.): pba_283.032 [Beginn Spaltensatz] ich hân von in zwein vil gedâht pba_283.033 [Spaltenumbruch] pba_283.101und gedénke hiute und alle tage; pba_283.034 swenne ich liebe und senede klage pba_283.035 vür mîniu ougen breite pba_283.036 und ir gelegenheite pba_283.037 in mînem herzen ahte, pba_283.038 sô wahsent mîn trahte pba_283.039 und muot mîn hergeselle, pba_283.040 als er ín die wolken welle. pba_283.041 swenn' ich bedenke sunder Über beide hab' ich viel gedacht pba_283.102 [Ende Spaltensatz]Und denke heut und allezeit: pba_283.103 Wenn ich Liebeslust und Leid pba_283.104 Mir will vor Augen breiten, pba_283.105 Jhr Wechseln und ihr Streiten pba_283.106 Jm Herzen zu betrachten, pba_283.107 So wächst mein sehnlich Trachten pba_283.108 Und Mut, mein Heergeselle, pba_283.109 Als ob er in den Himmel schwelle. pba_283.110 Wenn ich der Wunder denke, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0301" n="283"/><lb n="pba_283.001"/> dessen, daß die Liebe Tristans und Jsoldens in jedem Moment der <lb n="pba_283.002"/> Handlung gegen diese Gesellschaft in offenbarem und schwerem Unrecht <lb n="pba_283.003"/> ist, sie nichtsdestoweniger durch die Kraft ihrer Wahrheit, durch ihre <lb n="pba_283.004"/> Tiefe und ihren echten inneren Reichtum, gegenüber dem diese Gesellschaft <lb n="pba_283.005"/> beherrschenden fiktiven Scheinbilde der Empfindung, einen unzerstörbaren <lb n="pba_283.006"/> und von jedem gefühlten Rechtsanspruch behauptet, und daß <lb n="pba_283.007"/> sie dennoch nach dem unerbittlichen Gesetz, von dessen ewiger und unverletzlicher <lb n="pba_283.008"/> Geltung der Bestand aller menschlichen Lebensgestaltung abhängt, <lb n="pba_283.009"/> zum Verderben führt. Hier zuerst ist das <hi rendition="#g">Naturrecht</hi> wahrer <lb n="pba_283.010"/> Empfindungskraft zwar nicht als solches proklamiert, aber dieses Naturrecht <lb n="pba_283.011"/> ist in Handlung vor Augen geführt und in Widerstreit gesetzt mit <lb n="pba_283.012"/> der bestehenden Gesellschaftsordnung; wie alle stärksten und segensreichsten <lb n="pba_283.013"/> Kräfte erweist sich auch diese, von der rechten Stelle und aus der ihr <lb n="pba_283.014"/> bestimmten Bahn gebracht, als verhängnisvoll und zerstörend. 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dessen, daß die Liebe Tristans und Jsoldens in jedem Moment der pba_283.002
Handlung gegen diese Gesellschaft in offenbarem und schwerem Unrecht pba_283.003
ist, sie nichtsdestoweniger durch die Kraft ihrer Wahrheit, durch ihre pba_283.004
Tiefe und ihren echten inneren Reichtum, gegenüber dem diese Gesellschaft pba_283.005
beherrschenden fiktiven Scheinbilde der Empfindung, einen unzerstörbaren pba_283.006
und von jedem gefühlten Rechtsanspruch behauptet, und daß pba_283.007
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zum Verderben führt. Hier zuerst ist das Naturrecht wahrer pba_283.010
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ist in Handlung vor Augen geführt und in Widerstreit gesetzt mit pba_283.012
der bestehenden Gesellschaftsordnung; wie alle stärksten und segensreichsten pba_283.013
Kräfte erweist sich auch diese, von der rechten Stelle und aus der ihr pba_283.014
bestimmten Bahn gebracht, als verhängnisvoll und zerstörend. Anlage pba_283.015
und Neigung führten den Dichter von „Tristan und Jsolde“ aber dazu, pba_283.016
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Tiefe und Wahrheit der Empfindung legt, die er durchweg mit den pba_283.018
schönsten und lebhaftesten Farben zu malen weiß, als auf die Vorbereitung pba_283.019
und Durchführung des tragischen Elementes der Handlung, auf pba_283.020
dem zuletzt die Einheit, Kraft und Würde der Dichtung beruht; pba_283.021
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des Dichters es am meisten verschuldet, daß sein Epos unvollendet blieb. pba_283.023
Desto stärker und deutlicher war er sich seiner Kraft bewußt; er legt pba_283.024
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das Liebesgeständnis zwischen Tristan und Jsolde erfolgt ist, ein ausdrückliches pba_283.026
Zeugnis ab; 1 ja man möchte aus dem Verlaufe dieser Stelle,
1 pba_283.027
Jch führe die schöne Stelle nach dem R. Bechsteinschen Texte (mit Hinzufügung pba_283.028
der Simrockschen Übersetzung) hier an, da sie in hohem Grade geeignet ist, darzuthun, pba_283.029
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Entartung des Minnewesens entgegenstellte. Er fügt der Erzählung, wie nun Tristan pba_283.031
und Jsolde ihren Liebesbund besiegelt haben, das Folgende hinzu (s. XVII, V. 12204 ff.): pba_283.032
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Und Mut, mein Heergeselle, pba_283.109
Als ob er in den Himmel schwelle. pba_283.110
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