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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Aristoteles die philanthropia nennt, und welches auch dem Verbrecher pba_242.002
noch gezollt wird, der seine verdiente Strafe erleidet. Jnsoweit sind also pba_242.003
die Regeln für die Komposition komischer Handlungen denen der tragischen pba_242.004
Darstellung gerade entgegengesetzt, auch in der Hinsicht, daß zur Erregung pba_242.005
der spezifisch tragischen Empfindungen die Handlung von entsprechender pba_242.006
Größe und Bedeutung sein muß, wogegen die komische Handlung von pba_242.007
minderer Bedeutung sein und sich an geringere Jnteressen knüpfen muß; pba_242.008
was nicht ausschließt, daß sie zeitweise Einzelnen der bei der Handlung pba_242.009
Beteiligten größer erscheinen können. So z. B. sieht in Lessings Minna pba_242.010
der Major Tellheim die Lage sehr ernst an, während für den Zuschauer pba_242.011
von Anbeginn und während des ganzen Verlaufs die Verwickelung als pba_242.012
eine unbedeutende, leicht zu lösende vorliegt und schlimme Befürchtungen pba_242.013
gar nicht in Frage kommen.

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Die Fehler gegen diese Hauptgesetze sind verhältnismäßig leicht zu pba_242.015
vermeiden, und doch zeigt sich die in betreff der hier entscheidenden pba_242.016
Empfindungsweise geltende Anschauung nach Zeitverhältnissen und nationaler pba_242.017
Eigenart sehr wesentlich modifiziert, wie durch das Beispiel der pba_242.018
größten Dichter bewiesen wird. Es darf nur an Shakespeares Shylock pba_242.019
und an Molieres Tartuffe erinnert werden: für beide, wie für ihr pba_242.020
Publikum, lag eine durch die aktuellen Verhältnisse veränderte Stimmung pba_242.021
vor. Jm ersten Fall wurde durch das gekränkte Rechtsgefühl und die pba_242.022
Erbitterung über schamlosen Wucher der Faktor des allgemein menschlichen pba_242.023
Mitgefühls abgeschwächt; im andern durch die Gewöhnung an ein pba_242.024
System, wo dem Uebermaß von heuchlerischer Jntrigue und Bigotterie pba_242.025
eine schrankenlose Willkür gegenüberstand, das Erschreckende und Empörende pba_242.026
der Handlung zu Gunsten der vorwiegend lächerlichen Wirkung pba_242.027
herabgedrückt.

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Aus einem Schwanken zwischen den Mitteln tragischer und komischer pba_242.029
Darstellung und einer Vermischung beider, wodurch die Wirkung der pba_242.030
einen und der andern verdorben und verfehlt wird, ist das sogenannte pba_242.031
genre serieux hervorgegangen, auf welches näher einzugehen hier jedoch pba_242.032
noch nicht der Ort ist.

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Weit schwerer ist es die Darstellung des Lächerlichen von der Beimischung pba_242.034
des Verletzenden, Widerlichen, Ekel erregenden frei zu halten. pba_242.035
So entschieden und untrüglich ein entwickeltes und geläutertes Empfindungsvermögen pba_242.036
durch die seichte, frostige Alltagsnarrheit, Schalheit, pba_242.037
Albernheit, Gemeinheit sich verletzt fühlt, so schwierig ist es mit Bestimmtheit pba_242.038
festzustellen, wo hier die Grenzen liegen, welche nicht überschritten pba_242.039
werden dürfen.

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Das entscheidende Kriterium, aus welchem hier alle Bestimmungen

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Aristoteles die φιλανθρωπία nennt, und welches auch dem Verbrecher pba_242.002
noch gezollt wird, der seine verdiente Strafe erleidet. Jnsoweit sind also pba_242.003
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der Major Tellheim die Lage sehr ernst an, während für den Zuschauer pba_242.011
von Anbeginn und während des ganzen Verlaufs die Verwickelung als pba_242.012
eine unbedeutende, leicht zu lösende vorliegt und schlimme Befürchtungen pba_242.013
gar nicht in Frage kommen.

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Die Fehler gegen diese Hauptgesetze sind verhältnismäßig leicht zu pba_242.015
vermeiden, und doch zeigt sich die in betreff der hier entscheidenden pba_242.016
Empfindungsweise geltende Anschauung nach Zeitverhältnissen und nationaler pba_242.017
Eigenart sehr wesentlich modifiziert, wie durch das Beispiel der pba_242.018
größten Dichter bewiesen wird. Es darf nur an Shakespeares Shylock pba_242.019
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Publikum, lag eine durch die aktuellen Verhältnisse veränderte Stimmung pba_242.021
vor. Jm ersten Fall wurde durch das gekränkte Rechtsgefühl und die pba_242.022
Erbitterung über schamlosen Wucher der Faktor des allgemein menschlichen pba_242.023
Mitgefühls abgeschwächt; im andern durch die Gewöhnung an ein pba_242.024
System, wo dem Uebermaß von heuchlerischer Jntrigue und Bigotterie pba_242.025
eine schrankenlose Willkür gegenüberstand, das Erschreckende und Empörende pba_242.026
der Handlung zu Gunsten der vorwiegend lächerlichen Wirkung pba_242.027
herabgedrückt.

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Aus einem Schwanken zwischen den Mitteln tragischer und komischer pba_242.029
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einen und der andern verdorben und verfehlt wird, ist das sogenannte pba_242.031
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noch nicht der Ort ist.

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Weit schwerer ist es die Darstellung des Lächerlichen von der Beimischung pba_242.034
des Verletzenden, Widerlichen, Ekel erregenden frei zu halten. pba_242.035
So entschieden und untrüglich ein entwickeltes und geläutertes Empfindungsvermögen pba_242.036
durch die seichte, frostige Alltagsnarrheit, Schalheit, pba_242.037
Albernheit, Gemeinheit sich verletzt fühlt, so schwierig ist es mit Bestimmtheit pba_242.038
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[242/0260] pba_242.001 Aristoteles die φιλανθρωπία nennt, und welches auch dem Verbrecher pba_242.002 noch gezollt wird, der seine verdiente Strafe erleidet. Jnsoweit sind also pba_242.003 die Regeln für die Komposition komischer Handlungen denen der tragischen pba_242.004 Darstellung gerade entgegengesetzt, auch in der Hinsicht, daß zur Erregung pba_242.005 der spezifisch tragischen Empfindungen die Handlung von entsprechender pba_242.006 Größe und Bedeutung sein muß, wogegen die komische Handlung von pba_242.007 minderer Bedeutung sein und sich an geringere Jnteressen knüpfen muß; pba_242.008 was nicht ausschließt, daß sie zeitweise Einzelnen der bei der Handlung pba_242.009 Beteiligten größer erscheinen können. So z. B. sieht in Lessings Minna pba_242.010 der Major Tellheim die Lage sehr ernst an, während für den Zuschauer pba_242.011 von Anbeginn und während des ganzen Verlaufs die Verwickelung als pba_242.012 eine unbedeutende, leicht zu lösende vorliegt und schlimme Befürchtungen pba_242.013 gar nicht in Frage kommen. pba_242.014 Die Fehler gegen diese Hauptgesetze sind verhältnismäßig leicht zu pba_242.015 vermeiden, und doch zeigt sich die in betreff der hier entscheidenden pba_242.016 Empfindungsweise geltende Anschauung nach Zeitverhältnissen und nationaler pba_242.017 Eigenart sehr wesentlich modifiziert, wie durch das Beispiel der pba_242.018 größten Dichter bewiesen wird. Es darf nur an Shakespeares Shylock pba_242.019 und an Molières Tartuffe erinnert werden: für beide, wie für ihr pba_242.020 Publikum, lag eine durch die aktuellen Verhältnisse veränderte Stimmung pba_242.021 vor. Jm ersten Fall wurde durch das gekränkte Rechtsgefühl und die pba_242.022 Erbitterung über schamlosen Wucher der Faktor des allgemein menschlichen pba_242.023 Mitgefühls abgeschwächt; im andern durch die Gewöhnung an ein pba_242.024 System, wo dem Uebermaß von heuchlerischer Jntrigue und Bigotterie pba_242.025 eine schrankenlose Willkür gegenüberstand, das Erschreckende und Empörende pba_242.026 der Handlung zu Gunsten der vorwiegend lächerlichen Wirkung pba_242.027 herabgedrückt. pba_242.028 Aus einem Schwanken zwischen den Mitteln tragischer und komischer pba_242.029 Darstellung und einer Vermischung beider, wodurch die Wirkung der pba_242.030 einen und der andern verdorben und verfehlt wird, ist das sogenannte pba_242.031 genre sérieux hervorgegangen, auf welches näher einzugehen hier jedoch pba_242.032 noch nicht der Ort ist. pba_242.033 Weit schwerer ist es die Darstellung des Lächerlichen von der Beimischung pba_242.034 des Verletzenden, Widerlichen, Ekel erregenden frei zu halten. pba_242.035 So entschieden und untrüglich ein entwickeltes und geläutertes Empfindungsvermögen pba_242.036 durch die seichte, frostige Alltagsnarrheit, Schalheit, pba_242.037 Albernheit, Gemeinheit sich verletzt fühlt, so schwierig ist es mit Bestimmtheit pba_242.038 festzustellen, wo hier die Grenzen liegen, welche nicht überschritten pba_242.039 werden dürfen. pba_242.040 Das entscheidende Kriterium, aus welchem hier alle Bestimmungen

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/260>, abgerufen am 25.11.2024.