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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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der Gründe, nach denen es erfolgt, absolut ausgeschlossen sein soll, ist pba_239.002
im Grunde keins, die Thätigkeit des "Urteilens" findet dabei eben nicht pba_239.003
statt. Die Bezeichnung ist von der Analogie hergenommen, daß von pba_239.004
zweien oder mehr Empfindungen, die bei einem Anlasse möglich wären, pba_239.005
die eine wirklich eintritt, also eine Entscheidung für dieselbe getroffen pba_239.006
wird. Der Unterschied aber, um dessentwillen jene Bezeichnung doch pba_239.007
wohl besser vermieden würde, liegt darin, daß ein Schwanken, eine pba_239.008
Wahl zwischen jenen möglichen Empfindungen bei dem sogenannten pba_239.009
"ästhetischen" Urteil nicht allein nicht angenommen wird, sondern seiner pba_239.010
Natur nach bei ihm nicht vorhanden sein darf. Jn dem unmittelbar, pba_239.011
ohne Jnteresse, ohne Gründe, von selbst mit Bestimmtheit erfolgenden pba_239.012
Eintreten der Empfindung ist das, was Kant das ästhetische Urteil pba_239.013
nennt, gegeben. Dieses so beschaffene, unmittelbare und bestimmte Eintreten pba_239.014
der Empfindung ist, außer von der Natur der "ästhetischen" pba_239.015
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empfinden von Natur mehr oder weniger geneigt ist -- und von der pba_239.019
durch Gewohnheit, Erziehung, Bildung, überhaupt durch die Gesamtentwickelung pba_239.020
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das Ethos: es wird also, ebenso wie das Handeln, so auch die pba_239.024
ästhetische Urteilsweise ein Kennzeichen des in einem Menschen pba_239.025
vorhandenen Ethos sein.

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Es fragt sich nun, wie dieses ästhetische Urteil sich dem Lächerlichen pba_239.027
gegenüber verhält. Es wäre also die unmittelbar und ohne pba_239.028
Bewußtsein der Gründe eintretende Empfindung einer Fehlerhaftigkeit pba_239.029
oder Deformität, die weder Schmerz noch Schaden mit sich bringt. Wie pba_239.030
aber steht es mit dem Angenehmen, dem Freudigen dieser Empfindung? pba_239.031
Bei dem entsprechenden Verstandesurteil lag dasselbe in der unmittelbar pba_239.032
und mühelos -- und deshalb immer überraschend -- gewonnenen pba_239.033
Klarheit des Erkennens, welche mit der Konstatierung des Fehlerhaften pba_239.034
als solchem notwendig verbunden ist: mit dieser Thätigkeit muß, je reiner pba_239.035
sie ist, in desto höherem Grade die Erscheinung der Freude verknüpft sein. pba_239.036
Von dieser Erkenntnisfreude kann bei dem ästhetischen Urteil nicht die pba_239.037
Rede sein, denn es ist ja kein eigentliches Urteil; es handelt sich bei ihm pba_239.038
keineswegs um das Wahre und Falsche, Verkehrte oder Rechte, sondern pba_239.039
um das Wohlgefällige oder Mißfällige, das Unangenehme, pba_239.040
Widrige
oder Angenehme, Erfreuliche: denn einerseits unterscheiden

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der Gründe, nach denen es erfolgt, absolut ausgeschlossen sein soll, ist pba_239.002
im Grunde keins, die Thätigkeit des „Urteilens“ findet dabei eben nicht pba_239.003
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wohl besser vermieden würde, liegt darin, daß ein Schwanken, eine pba_239.008
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Natur nach bei ihm nicht vorhanden sein darf. Jn dem unmittelbar, pba_239.011
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Eintreten der Empfindung ist das, was Kant das ästhetische Urteil pba_239.013
nennt, gegeben. Dieses so beschaffene, unmittelbare und bestimmte Eintreten pba_239.014
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Entschließen und Handeln sich äußernde Gesinnungsweise und Gemütsart, pba_239.023
das Ethos: es wird also, ebenso wie das Handeln, so auch die pba_239.024
ästhetische Urteilsweise ein Kennzeichen des in einem Menschen pba_239.025
vorhandenen Ethos sein.

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Es fragt sich nun, wie dieses ästhetische Urteil sich dem Lächerlichen pba_239.027
gegenüber verhält. Es wäre also die unmittelbar und ohne pba_239.028
Bewußtsein der Gründe eintretende Empfindung einer Fehlerhaftigkeit pba_239.029
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aber steht es mit dem Angenehmen, dem Freudigen dieser Empfindung? pba_239.031
Bei dem entsprechenden Verstandesurteil lag dasselbe in der unmittelbar pba_239.032
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sie ist, in desto höherem Grade die Erscheinung der Freude verknüpft sein. pba_239.036
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[239/0257] pba_239.001 der Gründe, nach denen es erfolgt, absolut ausgeschlossen sein soll, ist pba_239.002 im Grunde keins, die Thätigkeit des „Urteilens“ findet dabei eben nicht pba_239.003 statt. Die Bezeichnung ist von der Analogie hergenommen, daß von pba_239.004 zweien oder mehr Empfindungen, die bei einem Anlasse möglich wären, pba_239.005 die eine wirklich eintritt, also eine Entscheidung für dieselbe getroffen pba_239.006 wird. Der Unterschied aber, um dessentwillen jene Bezeichnung doch pba_239.007 wohl besser vermieden würde, liegt darin, daß ein Schwanken, eine pba_239.008 Wahl zwischen jenen möglichen Empfindungen bei dem sogenannten pba_239.009 „ästhetischen“ Urteil nicht allein nicht angenommen wird, sondern seiner pba_239.010 Natur nach bei ihm nicht vorhanden sein darf. Jn dem unmittelbar, pba_239.011 ohne Jnteresse, ohne Gründe, von selbst mit Bestimmtheit erfolgenden pba_239.012 Eintreten der Empfindung ist das, was Kant das ästhetische Urteil pba_239.013 nennt, gegeben. Dieses so beschaffene, unmittelbare und bestimmte Eintreten pba_239.014 der Empfindung ist, außer von der Natur der „ästhetischen“ pba_239.015 Wahrnehmung, welche den Anlaß gibt, von zwei subjektiven Faktoren pba_239.016 abhängig: von der Empfindungsanlage des Wahrnehmenden (seiner pba_239.017 δύναμις παθητική) — nach welcher er zu dieser oder jener Art zu pba_239.018 empfinden von Natur mehr oder weniger geneigt ist — und von der pba_239.019 durch Gewohnheit, Erziehung, Bildung, überhaupt durch die Gesamtentwickelung pba_239.020 erworbenen ständigen Beschaffenheit seines Empfindens pba_239.021 (seiner ἕξις παθητική). Diese letztere ist die Grundlage für die im pba_239.022 Entschließen und Handeln sich äußernde Gesinnungsweise und Gemütsart, pba_239.023 das Ethos: es wird also, ebenso wie das Handeln, so auch die pba_239.024 ästhetische Urteilsweise ein Kennzeichen des in einem Menschen pba_239.025 vorhandenen Ethos sein. pba_239.026 Es fragt sich nun, wie dieses ästhetische Urteil sich dem Lächerlichen pba_239.027 gegenüber verhält. Es wäre also die unmittelbar und ohne pba_239.028 Bewußtsein der Gründe eintretende Empfindung einer Fehlerhaftigkeit pba_239.029 oder Deformität, die weder Schmerz noch Schaden mit sich bringt. Wie pba_239.030 aber steht es mit dem Angenehmen, dem Freudigen dieser Empfindung? pba_239.031 Bei dem entsprechenden Verstandesurteil lag dasselbe in der unmittelbar pba_239.032 und mühelos — und deshalb immer überraschend — gewonnenen pba_239.033 Klarheit des Erkennens, welche mit der Konstatierung des Fehlerhaften pba_239.034 als solchem notwendig verbunden ist: mit dieser Thätigkeit muß, je reiner pba_239.035 sie ist, in desto höherem Grade die Erscheinung der Freude verknüpft sein. pba_239.036 Von dieser Erkenntnisfreude kann bei dem ästhetischen Urteil nicht die pba_239.037 Rede sein, denn es ist ja kein eigentliches Urteil; es handelt sich bei ihm pba_239.038 keineswegs um das Wahre und Falsche, Verkehrte oder Rechte, sondern pba_239.039 um das Wohlgefällige oder Mißfällige, das Unangenehme, pba_239.040 Widrige oder Angenehme, Erfreuliche: denn einerseits unterscheiden

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/257>, abgerufen am 25.11.2024.