pba_225.001 Götz, Pfeffel und viele andere. Eine Stufe weniger tief stehen Erzählungen pba_225.002 wie Gellerts "Herodes und Herodias" und "Monime"; pba_225.003 hier liegt doch wenigstens etwas vor, was wert ist erzählt zu werden, pba_225.004 wenn auch jede Spur poetischer Nachahmung in dem Schwalle von pba_225.005 Moral erstickt wird. Nicht besser steht es mit den "rührenden" Erzählungen, pba_225.006 in welchen erstlich das Betrübende mit dem Tragischen verwechselt, pba_225.007 und sodann der bloße Jammer über einen in möglichster Breite pba_225.008 mitgeteilten Unglücksfall -- "das Glück, um andre sich zu quälen" -- pba_225.009 für einen Akt der Moralität ausgegeben wird. Ein Musterstück dieser pba_225.010 Abart ist bei Gellert "Das neue Ehepaar": ein junger Ehemann verreist pba_225.011 zur See, seine Frau geht bald darauf am Strande spazieren, findet pba_225.012 seinen ans Land gespülten Leichnam und stirbt aus Schmerz gleichfalls; pba_225.013 dieser nackte Thatbestand, ohne jede weitere Modifikation, jedoch mit pba_225.014 vielen moralischen Reden verbrämt, in mehr als ein hundert und dreißig pba_225.015 Versen vorgetragen.
pba_225.016 Betrachtet man das hier obwaltende Verhältnis genauer, so sieht pba_225.017 man darin die gemeinsame Ursache sich darstellen für alle die Jrrtümer, pba_225.018 die in der Theorie und in der Ausübung die erzählende Poesie der ersten pba_225.019 Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beherrschten. Bei der Entartung pba_225.020 der Dichtung meinte man die verlorene Würde derselben nur in ihrer pba_225.021 bessernden und belehrenden Wirkung erblicken zu müssen, und so geschah pba_225.022 es, daß man den unscheinbaren Nebenzweig der äsopischen Tierfabel nun pba_225.023 plötzlich für die Verkörperung der wesentlichsten Gesetze aller erzählendenpba_225.024 und darstellenden Poesie erklärte, für ihre eigentliche, typische Grundform: pba_225.025 Einkleidung eines allgemeinen moralischen oder lehrhaften Satzes pba_225.026 in die Darstellung oder Erzählung einer Handlung. Daß wenigstens pba_225.027 für die Auffassung der Fabel dies die zutreffende Annahme sei, galt ja pba_225.028 noch Lessing für unbestreitbar.
pba_225.029 Nun lag in dieser Auffassung der Fabel zu einem Teile wirklich pba_225.030 etwas Zutreffendes, welches aber durch den beigemischten Jrrtum sogleich pba_225.031 auch für die Theorie der Fabel selbst in ein Falsches verwandelt wurde pba_225.032 und in seiner Anwendung auf die gesamte Poesie vollends zu einer Verirrung pba_225.033 werden mußte.
pba_225.034 Dieses Zutreffende war die Erkenntnis, daß es sich in der Tierfabel pba_225.035 um ein Urteil über die Gegensätze des Verkehrten und Nützlichen, pba_225.036 Richtigen und Falschen, Zweckmäßigen und Zweckwidrigen handelt, pba_225.037 mittelbar sogar auch des Rechten und Unrechten, Guten und Bösen: pba_225.038 freilich nur daß dieses letztere sich dem Urteil nicht als solches, sondern pba_225.039 im Lichte jener erstgenannten Gegensätze erscheinend darbietet; vor pba_225.040 allem aber daß es ein Urteil nicht des Verstandes, sondern der
pba_225.001 Götz, Pfeffel und viele andere. Eine Stufe weniger tief stehen Erzählungen pba_225.002 wie Gellerts „Herodes und Herodias“ und „Monime“; pba_225.003 hier liegt doch wenigstens etwas vor, was wert ist erzählt zu werden, pba_225.004 wenn auch jede Spur poetischer Nachahmung in dem Schwalle von pba_225.005 Moral erstickt wird. Nicht besser steht es mit den „rührenden“ Erzählungen, pba_225.006 in welchen erstlich das Betrübende mit dem Tragischen verwechselt, pba_225.007 und sodann der bloße Jammer über einen in möglichster Breite pba_225.008 mitgeteilten Unglücksfall — „das Glück, um andre sich zu quälen“ — pba_225.009 für einen Akt der Moralität ausgegeben wird. Ein Musterstück dieser pba_225.010 Abart ist bei Gellert „Das neue Ehepaar“: ein junger Ehemann verreist pba_225.011 zur See, seine Frau geht bald darauf am Strande spazieren, findet pba_225.012 seinen ans Land gespülten Leichnam und stirbt aus Schmerz gleichfalls; pba_225.013 dieser nackte Thatbestand, ohne jede weitere Modifikation, jedoch mit pba_225.014 vielen moralischen Reden verbrämt, in mehr als ein hundert und dreißig pba_225.015 Versen vorgetragen.
pba_225.016 Betrachtet man das hier obwaltende Verhältnis genauer, so sieht pba_225.017 man darin die gemeinsame Ursache sich darstellen für alle die Jrrtümer, pba_225.018 die in der Theorie und in der Ausübung die erzählende Poesie der ersten pba_225.019 Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beherrschten. Bei der Entartung pba_225.020 der Dichtung meinte man die verlorene Würde derselben nur in ihrer pba_225.021 bessernden und belehrenden Wirkung erblicken zu müssen, und so geschah pba_225.022 es, daß man den unscheinbaren Nebenzweig der äsopischen Tierfabel nun pba_225.023 plötzlich für die Verkörperung der wesentlichsten Gesetze aller erzählendenpba_225.024 und darstellenden Poesie erklärte, für ihre eigentliche, typische Grundform: pba_225.025 Einkleidung eines allgemeinen moralischen oder lehrhaften Satzes pba_225.026 in die Darstellung oder Erzählung einer Handlung. Daß wenigstens pba_225.027 für die Auffassung der Fabel dies die zutreffende Annahme sei, galt ja pba_225.028 noch Lessing für unbestreitbar.
pba_225.029 Nun lag in dieser Auffassung der Fabel zu einem Teile wirklich pba_225.030 etwas Zutreffendes, welches aber durch den beigemischten Jrrtum sogleich pba_225.031 auch für die Theorie der Fabel selbst in ein Falsches verwandelt wurde pba_225.032 und in seiner Anwendung auf die gesamte Poesie vollends zu einer Verirrung pba_225.033 werden mußte.
pba_225.034 Dieses Zutreffende war die Erkenntnis, daß es sich in der Tierfabel pba_225.035 um ein Urteil über die Gegensätze des Verkehrten und Nützlichen, pba_225.036 Richtigen und Falschen, Zweckmäßigen und Zweckwidrigen handelt, pba_225.037 mittelbar sogar auch des Rechten und Unrechten, Guten und Bösen: pba_225.038 freilich nur daß dieses letztere sich dem Urteil nicht als solches, sondern pba_225.039 im Lichte jener erstgenannten Gegensätze erscheinend darbietet; vor pba_225.040 allem aber daß es ein Urteil nicht des Verstandes, sondern der
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Götz, Pfeffel und viele andere. Eine Stufe weniger tief stehen Erzählungen pba_225.002
wie Gellerts „Herodes und Herodias“ und „Monime“; pba_225.003
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Nun lag in dieser Auffassung der Fabel zu einem Teile wirklich pba_225.030
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auch für die Theorie der Fabel selbst in ein Falsches verwandelt wurde pba_225.032
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Dieses Zutreffende war die Erkenntnis, daß es sich in der Tierfabel pba_225.035
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/243>, abgerufen am 24.11.2024.
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