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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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XIV.

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Es liegt in der Natur der moralisch-didaktischen, der Fabel verwandten, pba_224.003
poetischen Erzählung, lieber eine komische Färbung anzunehmen pba_224.004
als durch ernsten Vortrag ihren Zweck geradehin zu erreichen. pba_224.005
Der Grund ist leicht einzusehen: daß das Gute einer Handlung auch pba_224.006
von der Einsicht als solches erkannt wird, ist so natürlich und notwendig, pba_224.007
daß wir die Demonstration weder dem Dichter als ein Verdienst pba_224.008
anzurechnen noch ein Vergnügen an der bloßen Demonstration zu finden pba_224.009
geneigt sind. Der Dichter muß also in diesem Falle mehr thun, er muß pba_224.010
das Vortreffliche der Handlung zu einem Gegenstande der Empfindung pba_224.011
zu machen wissen; gelingt ihm das völlig, so hat er sich über die moralische pba_224.012
Tendenz erhoben, seine Erzählung wirkt unmittelbar durch sich pba_224.013
selbst und er ist zum echten Dichter geworden; gelingt es ihm aber nur pba_224.014
teilweise, so ist jenem Mangel wenig abgeholfen, sein Gedicht bleibt pba_224.015
trivial.

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So sind denn auch die ernsten Erzählungen bei Gellert die bei pba_224.017
weitem weniger gelungenen. Ein Beispiel der schlechtesten Art ist "Der pba_224.018
Jnformator
", dem der reiche Bauer in aufrichtiger Anerkennung seiner pba_224.019
vortrefflichen Pflichterfüllung statt der geforderten dreißig Thaler Jahresgehalt pba_224.020
"von Herzen gern" deren hundert bewilligt. Noch abgeschmackter pba_224.021
freilich ist die Geschichte von "Calliste", der reichen und schönen Dame pba_224.022
"mit zärtlichem Gemüte," welcher der Wundarzt, der "schmachtend insgeheim pba_224.023
Callistens Reiz verehrte," durch den Anblick ihres weißen Armes pba_224.024
verwirrt, beim Aderlaß den Puls durchschlägt, und die er dann, in noch pba_224.025
größerer Bestürzung, so schlecht behandelt, daß der Arm amputiert werden pba_224.026
muß, die Wunde brandig wird und schließlich den Tod herbeiführt:

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Auch hier blieb noch das große Herz gelassen. pba_224.028
So sprach sie: sterb' ich denn? Wohlan! Er ist nicht schuld, pba_224.029
Er würde gern für mich erblassen. pba_224.030
Gott hat's verhängt, Gott ehr' ich durch Geduld, pba_224.031
Und bin bereit, den Augenblick zu sterben; pba_224.032
(Der Wundarzt trat indem herein), pba_224.033
Sie aber, fuhr sie fort, setz' ich hiemit zum Erben pba_224.034
Von allen meinen Gütern ein, pba_224.035
Sie möchten sonst unglücklich sein. pba_224.036
Sie sprach's und schlief großmütig ein.

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So niedrig diese Gattung von Gedichten ist, und so schielend oft pba_224.038
noch obendrein die dargestellte Moral, soviel Behagen fand Gellert an pba_224.039
ihr und mit ihm seine ganze Zeit und zahlreiche Nachahmer, wie Gleim,

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Es liegt in der Natur der moralisch-didaktischen, der Fabel verwandten, pba_224.003
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Der Grund ist leicht einzusehen: daß das Gute einer Handlung auch pba_224.006
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So sind denn auch die ernsten Erzählungen bei Gellert die bei pba_224.017
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Auch hier blieb noch das große Herz gelassen. pba_224.028
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Von allen meinen Gütern ein, pba_224.035
Sie möchten sonst unglücklich sein. pba_224.036
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So niedrig diese Gattung von Gedichten ist, und so schielend oft pba_224.038
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[224/0242] pba_224.001 XIV. pba_224.002 Es liegt in der Natur der moralisch-didaktischen, der Fabel verwandten, pba_224.003 poetischen Erzählung, lieber eine komische Färbung anzunehmen pba_224.004 als durch ernsten Vortrag ihren Zweck geradehin zu erreichen. pba_224.005 Der Grund ist leicht einzusehen: daß das Gute einer Handlung auch pba_224.006 von der Einsicht als solches erkannt wird, ist so natürlich und notwendig, pba_224.007 daß wir die Demonstration weder dem Dichter als ein Verdienst pba_224.008 anzurechnen noch ein Vergnügen an der bloßen Demonstration zu finden pba_224.009 geneigt sind. Der Dichter muß also in diesem Falle mehr thun, er muß pba_224.010 das Vortreffliche der Handlung zu einem Gegenstande der Empfindung pba_224.011 zu machen wissen; gelingt ihm das völlig, so hat er sich über die moralische pba_224.012 Tendenz erhoben, seine Erzählung wirkt unmittelbar durch sich pba_224.013 selbst und er ist zum echten Dichter geworden; gelingt es ihm aber nur pba_224.014 teilweise, so ist jenem Mangel wenig abgeholfen, sein Gedicht bleibt pba_224.015 trivial. pba_224.016 So sind denn auch die ernsten Erzählungen bei Gellert die bei pba_224.017 weitem weniger gelungenen. Ein Beispiel der schlechtesten Art ist „Der pba_224.018 Jnformator“, dem der reiche Bauer in aufrichtiger Anerkennung seiner pba_224.019 vortrefflichen Pflichterfüllung statt der geforderten dreißig Thaler Jahresgehalt pba_224.020 „von Herzen gern“ deren hundert bewilligt. Noch abgeschmackter pba_224.021 freilich ist die Geschichte von „Calliste“, der reichen und schönen Dame pba_224.022 „mit zärtlichem Gemüte,“ welcher der Wundarzt, der „schmachtend insgeheim pba_224.023 Callistens Reiz verehrte,“ durch den Anblick ihres weißen Armes pba_224.024 verwirrt, beim Aderlaß den Puls durchschlägt, und die er dann, in noch pba_224.025 größerer Bestürzung, so schlecht behandelt, daß der Arm amputiert werden pba_224.026 muß, die Wunde brandig wird und schließlich den Tod herbeiführt: pba_224.027 Auch hier blieb noch das große Herz gelassen. pba_224.028 So sprach sie: sterb' ich denn? Wohlan! Er ist nicht schuld, pba_224.029 Er würde gern für mich erblassen. pba_224.030 Gott hat's verhängt, Gott ehr' ich durch Geduld, pba_224.031 Und bin bereit, den Augenblick zu sterben; pba_224.032 (Der Wundarzt trat indem herein), pba_224.033 Sie aber, fuhr sie fort, setz' ich hiemit zum Erben pba_224.034 Von allen meinen Gütern ein, pba_224.035 Sie möchten sonst unglücklich sein. pba_224.036 Sie sprach's und schlief großmütig ein. pba_224.037 So niedrig diese Gattung von Gedichten ist, und so schielend oft pba_224.038 noch obendrein die dargestellte Moral, soviel Behagen fand Gellert an pba_224.039 ihr und mit ihm seine ganze Zeit und zahlreiche Nachahmer, wie Gleim,

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/242>, abgerufen am 27.11.2024.