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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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den Beweis benutzt, daß die Fabel der vollständigen Handlung nicht pba_173.002
bedürfe. Die Handlung ist vollständig: sie liegt in dem Schiedsspruche pba_173.003
des Affen, daß Fuchs und Wolf gleiche Lügner und Spitzbuben seien, pba_173.004
also das Zeugnis des einen gegen den anderen nichts gelte:

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Tu non videris perdidisse, quod petis; pba_173.006
Te credo surripuisse, quod pulchre negas.
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Die Handlung ist ebenso abgeschlossen, wie in Pfeffels Fabel der Streit pba_173.008
des Ochsen und des Esels, "wer am meisten Weisheit hätte", durch den pba_173.009
Richterspruch des Löwen: "Jhr seid alle beiden Narren" sein Ende findet. pba_173.010
Aber die Handlung beruht in beiden Fällen keineswegs nur auf dem pba_173.011
"sinnreichen Einfall" des Urteilenden, sondern zu ihrem wesentlichsten pba_173.012
Teile auf der Natur des Streites der handelnden Tiere, der zu demselben pba_173.013
die Veranlassung gibt.

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Aber gerade das umgekehrte Verhältnis findet bei einem großen pba_173.015
Teil der Lessingschen Fabeln statt; sie enthalten eben nur einen sinnreichen pba_173.016
Ausspruch, der einem Tiere in den Mund gelegt ist, ohne daß pba_173.017
eine Handlung von Tieren oder mitunter auch überhaupt eine Handlung pba_173.018
als Anlaß vorliegt. So z. B. III, 15 "Die Eiche". "Was für pba_173.019
ein Baum!" ruft der Fuchs, da er die gestürzte Eiche ansieht und die pba_173.020
Verwüstungen, die sie im Falle angerichtet, "hätte ich doch nimmer gedacht, pba_173.021
daß er so groß gewesen wäre." Oder der Fuchs findet die Larve pba_173.022
eines Schauspielers (II, 14): "Welch ein Kopf! Ohne Gehirn und mit pba_173.023
einem offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen pba_173.024
sein?" Ebenso II, 17: "Der Fuchs sah, daß der Rabe die Altäre pba_173.025
der Götter beraubte und von ihren Opfern mitlebte. Da dachte er bei pba_173.026
sich selbst: Jch möchte wohl wissen, ob der Rabe Anteil an den Opfern pba_173.027
hat, weil er ein prophetischer Vogel ist, oder ob man ihn für einen pba_173.028
prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer mit den pba_173.029
Göttern zu teilen." Das gleiche Verhältnis oder doch das ähnliche, daß pba_173.030
einer an sich gleichgültigen Tierhandlung durch eine geistreiche Wendung pba_173.031
ein tiefer Sinn untergelegt wird, waltet sehr vielfach ob; so z. B. in pba_173.032
I, 16 "Die Wespen", I, 17 "Die Sperlinge", I, 18 "Der Strauß", pba_173.033
I, 22 "Die Eule und der Schatzgräber", I, 24 "Merops", II, 25 "Der pba_173.034
wilde Apfelbaum", II, 27 "Der Dornstrauch", III, 2 "Die Nachtigall pba_173.035
und die Lerche", III, 12 "Der Strauß", III, 13, 14 "Die Wohlthaten", pba_173.036
III, 23 "Die Maus", III, 25 "Der Adler", III, 26 "Der junge und pba_173.037
der alte Hirsch", III, 29 "Der Adler und der Fuchs", III, 30 "Der pba_173.038
Schäfer und die Nachtigall".

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Diese Beobachtung führt zu einem Resultat, welches, trotzdem es

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bedürfe. Die Handlung ist vollständig: sie liegt in dem Schiedsspruche pba_173.003
des Affen, daß Fuchs und Wolf gleiche Lügner und Spitzbuben seien, pba_173.004
also das Zeugnis des einen gegen den anderen nichts gelte:

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Tu non videris perdidisse, quod petis; pba_173.006
Te credo surripuisse, quod pulchre negas.
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Die Handlung ist ebenso abgeschlossen, wie in Pfeffels Fabel der Streit pba_173.008
des Ochsen und des Esels, „wer am meisten Weisheit hätte“, durch den pba_173.009
Richterspruch des Löwen: „Jhr seid alle beiden Narren“ sein Ende findet. pba_173.010
Aber die Handlung beruht in beiden Fällen keineswegs nur auf dem pba_173.011
„sinnreichen Einfall“ des Urteilenden, sondern zu ihrem wesentlichsten pba_173.012
Teile auf der Natur des Streites der handelnden Tiere, der zu demselben pba_173.013
die Veranlassung gibt.

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Aber gerade das umgekehrte Verhältnis findet bei einem großen pba_173.015
Teil der Lessingschen Fabeln statt; sie enthalten eben nur einen sinnreichen pba_173.016
Ausspruch, der einem Tiere in den Mund gelegt ist, ohne daß pba_173.017
eine Handlung von Tieren oder mitunter auch überhaupt eine Handlung pba_173.018
als Anlaß vorliegt. So z. B. III, 15 „Die Eiche“. „Was für pba_173.019
ein Baum!“ ruft der Fuchs, da er die gestürzte Eiche ansieht und die pba_173.020
Verwüstungen, die sie im Falle angerichtet, „hätte ich doch nimmer gedacht, pba_173.021
daß er so groß gewesen wäre.“ Oder der Fuchs findet die Larve pba_173.022
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einem offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen pba_173.024
sein?“ Ebenso II, 17: „Der Fuchs sah, daß der Rabe die Altäre pba_173.025
der Götter beraubte und von ihren Opfern mitlebte. Da dachte er bei pba_173.026
sich selbst: Jch möchte wohl wissen, ob der Rabe Anteil an den Opfern pba_173.027
hat, weil er ein prophetischer Vogel ist, oder ob man ihn für einen pba_173.028
prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer mit den pba_173.029
Göttern zu teilen.“ Das gleiche Verhältnis oder doch das ähnliche, daß pba_173.030
einer an sich gleichgültigen Tierhandlung durch eine geistreiche Wendung pba_173.031
ein tiefer Sinn untergelegt wird, waltet sehr vielfach ob; so z. B. in pba_173.032
I, 16 „Die Wespen“, I, 17 „Die Sperlinge“, I, 18 „Der Strauß“, pba_173.033
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der alte Hirsch“, III, 29 „Der Adler und der Fuchs“, III, 30 „Der pba_173.038
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[173/0191] pba_173.001 den Beweis benutzt, daß die Fabel der vollständigen Handlung nicht pba_173.002 bedürfe. Die Handlung ist vollständig: sie liegt in dem Schiedsspruche pba_173.003 des Affen, daß Fuchs und Wolf gleiche Lügner und Spitzbuben seien, pba_173.004 also das Zeugnis des einen gegen den anderen nichts gelte: pba_173.005 Tu non videris perdidisse, quod petis; pba_173.006 Te credo surripuisse, quod pulchre negas. pba_173.007 Die Handlung ist ebenso abgeschlossen, wie in Pfeffels Fabel der Streit pba_173.008 des Ochsen und des Esels, „wer am meisten Weisheit hätte“, durch den pba_173.009 Richterspruch des Löwen: „Jhr seid alle beiden Narren“ sein Ende findet. pba_173.010 Aber die Handlung beruht in beiden Fällen keineswegs nur auf dem pba_173.011 „sinnreichen Einfall“ des Urteilenden, sondern zu ihrem wesentlichsten pba_173.012 Teile auf der Natur des Streites der handelnden Tiere, der zu demselben pba_173.013 die Veranlassung gibt. pba_173.014 Aber gerade das umgekehrte Verhältnis findet bei einem großen pba_173.015 Teil der Lessingschen Fabeln statt; sie enthalten eben nur einen sinnreichen pba_173.016 Ausspruch, der einem Tiere in den Mund gelegt ist, ohne daß pba_173.017 eine Handlung von Tieren oder mitunter auch überhaupt eine Handlung pba_173.018 als Anlaß vorliegt. So z. B. III, 15 „Die Eiche“. „Was für pba_173.019 ein Baum!“ ruft der Fuchs, da er die gestürzte Eiche ansieht und die pba_173.020 Verwüstungen, die sie im Falle angerichtet, „hätte ich doch nimmer gedacht, pba_173.021 daß er so groß gewesen wäre.“ Oder der Fuchs findet die Larve pba_173.022 eines Schauspielers (II, 14): „Welch ein Kopf! Ohne Gehirn und mit pba_173.023 einem offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen pba_173.024 sein?“ Ebenso II, 17: „Der Fuchs sah, daß der Rabe die Altäre pba_173.025 der Götter beraubte und von ihren Opfern mitlebte. Da dachte er bei pba_173.026 sich selbst: Jch möchte wohl wissen, ob der Rabe Anteil an den Opfern pba_173.027 hat, weil er ein prophetischer Vogel ist, oder ob man ihn für einen pba_173.028 prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer mit den pba_173.029 Göttern zu teilen.“ Das gleiche Verhältnis oder doch das ähnliche, daß pba_173.030 einer an sich gleichgültigen Tierhandlung durch eine geistreiche Wendung pba_173.031 ein tiefer Sinn untergelegt wird, waltet sehr vielfach ob; so z. B. in pba_173.032 I, 16 „Die Wespen“, I, 17 „Die Sperlinge“, I, 18 „Der Strauß“, pba_173.033 I, 22 „Die Eule und der Schatzgräber“, I, 24 „Merops“, II, 25 „Der pba_173.034 wilde Apfelbaum“, II, 27 „Der Dornstrauch“, III, 2 „Die Nachtigall pba_173.035 und die Lerche“, III, 12 „Der Strauß“, III, 13, 14 „Die Wohlthaten“, pba_173.036 III, 23 „Die Maus“, III, 25 „Der Adler“, III, 26 „Der junge und pba_173.037 der alte Hirsch“, III, 29 „Der Adler und der Fuchs“, III, 30 „Der pba_173.038 Schäfer und die Nachtigall“. pba_173.039 Diese Beobachtung führt zu einem Resultat, welches, trotzdem es

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/191>, abgerufen am 25.11.2024.