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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Daraus geht auch hervor, daß Lessings Einteilung der Fabel falsch pba_167.002
ist: "vernünftige" Fabeln, "deren Fall schlechterdings möglich pba_167.003
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", kann es nicht geben, oder sie müssen von der Art der Holbergschen pba_167.004
sein. Mag immerhin der Vorgang, den die Fabel erzählt, möglich, ja pba_167.005
direkt der Wirklichkeit entnommen sein, die Art, wie der Fabeldichter ihn pba_167.006
einzig und allein brauchen kann, erhebt ihn in die Sphäre der Freiheit pba_167.007
des Handelns nach bestimmter Absicht und bewußter Wahl; damit "erhöht" pba_167.008
der Fabeldichter die Eigenschaften seiner handelnden Personen pba_167.009
(sofern sie nämlich Tiere sind, und nur die Tierfabel trägt den pba_167.010
Namen der Fabel mit Recht) in jedem Falle, gleichviel ob er seine Tiere pba_167.011
reden läßt oder nicht, er legt ihnen immer Reflexionen und Beweggründe pba_167.012
nach dem Maßstabe menschlicher Vernunft und Ethik bei, was mehr ist pba_167.013
als äußere Sprache und ohne innere Sprache nicht zu denken. Nach pba_167.014
Lessing müßten daher wenigstens die Tierfabeln samt und sonders pba_167.015
zu der von ihm als "hyperphysisch" bezeichneten Gattung gerechnet pba_167.016
werden. Mit wenigen Worten ließe sich der Beweis an den von Lessing pba_167.017
als "vernünftige" Fabeln citierten Beispielen aus dem Äsop: "Der pba_167.018
Hund und der Gärtner", "Der Schäfer und der Wolf" ebenso führen, pba_167.019
wie er vorhin an der Fabel "Die zwei kämpfenden Hähne" geführt ist; pba_167.020
überall würde die Fabel erst dadurch ihren Sinn erhalten, daß das darin pba_167.021
erzählte Bezeigen der Tiere zur "Handlung" erhoben, d. h. als aus pba_167.022
freier Wahl und bewußter Absicht hervorgehend gedacht würde; die pba_167.023
beiden andern Beispiele, welche Lessing anführt: "Der Vogelsteller und pba_167.024
die Schlange" und "Der Hund und der Koch", sind gar keine Fabeln, pba_167.025
sondern lediglich "Histörchen", bei denen dasjenige, was den Tieren pba_167.026
zugeschrieben wird, ebensogut durch irgend einen ganz mechanischen Zufall pba_167.027
geschehen könnte, und von denen das letzte obenein auf ein bloßes Wortspiel pba_167.028
hinausläuft.

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Unter allen Fabeln Lessings ist nur eine einzige, welche nach pba_167.030
seiner Definition der "vernünftigen" Fabeln dieser Gattung zuzurechnen pba_167.031
wäre: es ist "Der Falke";1 sie war im ersten Teile seiner Schriften pba_167.032
1753 gedruckt, von ihm in die Sammlung seiner Fabeln aber nicht pba_167.033
aufgenommen. Jn der That ist die Erfindung derselben so kahl und pba_167.034
matt als der darin enthaltene "allgemeine Satz": "des einen Glück ist pba_167.035
in der Welt des andern Unglück," zur "anschauenden Erkenntnis" gebracht pba_167.036
durch den Vorgang, daß ein Falke, im Begriff, auf ein Taubenpaar pba_167.037
zu stoßen, unter demselben einen Hasen bemerkt und diesen statt pba_167.038
jenes zur Beute erwählt. Trotzdem der Dichter einiges hinzugethan hat,

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Vgl. Ausg. Lachm.-Mal. Bd. I, S. 197; Anhang zu den Fabeln.

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Hund und der Gärtner“, „Der Schäfer und der Wolf“ ebenso führen, pba_167.019
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seiner Definition der „vernünftigen“ Fabeln dieser Gattung zuzurechnen pba_167.031
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[167/0185] pba_167.001 Daraus geht auch hervor, daß Lessings Einteilung der Fabel falsch pba_167.002 ist: „vernünftige“ Fabeln, „deren Fall schlechterdings möglich pba_167.003 ist“, kann es nicht geben, oder sie müssen von der Art der Holbergschen pba_167.004 sein. Mag immerhin der Vorgang, den die Fabel erzählt, möglich, ja pba_167.005 direkt der Wirklichkeit entnommen sein, die Art, wie der Fabeldichter ihn pba_167.006 einzig und allein brauchen kann, erhebt ihn in die Sphäre der Freiheit pba_167.007 des Handelns nach bestimmter Absicht und bewußter Wahl; damit „erhöht“ pba_167.008 der Fabeldichter die Eigenschaften seiner handelnden Personen pba_167.009 (sofern sie nämlich Tiere sind, und nur die Tierfabel trägt den pba_167.010 Namen der Fabel mit Recht) in jedem Falle, gleichviel ob er seine Tiere pba_167.011 reden läßt oder nicht, er legt ihnen immer Reflexionen und Beweggründe pba_167.012 nach dem Maßstabe menschlicher Vernunft und Ethik bei, was mehr ist pba_167.013 als äußere Sprache und ohne innere Sprache nicht zu denken. Nach pba_167.014 Lessing müßten daher wenigstens die Tierfabeln samt und sonders pba_167.015 zu der von ihm als „hyperphysisch“ bezeichneten Gattung gerechnet pba_167.016 werden. Mit wenigen Worten ließe sich der Beweis an den von Lessing pba_167.017 als „vernünftige“ Fabeln citierten Beispielen aus dem Äsop: „Der pba_167.018 Hund und der Gärtner“, „Der Schäfer und der Wolf“ ebenso führen, pba_167.019 wie er vorhin an der Fabel „Die zwei kämpfenden Hähne“ geführt ist; pba_167.020 überall würde die Fabel erst dadurch ihren Sinn erhalten, daß das darin pba_167.021 erzählte Bezeigen der Tiere zur „Handlung“ erhoben, d. h. als aus pba_167.022 freier Wahl und bewußter Absicht hervorgehend gedacht würde; die pba_167.023 beiden andern Beispiele, welche Lessing anführt: „Der Vogelsteller und pba_167.024 die Schlange“ und „Der Hund und der Koch“, sind gar keine Fabeln, pba_167.025 sondern lediglich „Histörchen“, bei denen dasjenige, was den Tieren pba_167.026 zugeschrieben wird, ebensogut durch irgend einen ganz mechanischen Zufall pba_167.027 geschehen könnte, und von denen das letzte obenein auf ein bloßes Wortspiel pba_167.028 hinausläuft. pba_167.029 Unter allen Fabeln Lessings ist nur eine einzige, welche nach pba_167.030 seiner Definition der „vernünftigen“ Fabeln dieser Gattung zuzurechnen pba_167.031 wäre: es ist „Der Falke“; 1 sie war im ersten Teile seiner Schriften pba_167.032 1753 gedruckt, von ihm in die Sammlung seiner Fabeln aber nicht pba_167.033 aufgenommen. Jn der That ist die Erfindung derselben so kahl und pba_167.034 matt als der darin enthaltene „allgemeine Satz“: „des einen Glück ist pba_167.035 in der Welt des andern Unglück,“ zur „anschauenden Erkenntnis“ gebracht pba_167.036 durch den Vorgang, daß ein Falke, im Begriff, auf ein Taubenpaar pba_167.037 zu stoßen, unter demselben einen Hasen bemerkt und diesen statt pba_167.038 jenes zur Beute erwählt. Trotzdem der Dichter einiges hinzugethan hat, 1 pba_167.039 Vgl. Ausg. Lachm.-Mal. Bd. I, S. 197; Anhang zu den Fabeln.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/185>, abgerufen am 25.11.2024.