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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Seele mit Wahl und Absicht sein?"1 Herder entscheidet sich für das pba_162.002
letztere; eine bloße "Zusammenstellung einer Gedankenfolge, damit pba_162.003
eine feine Bemerkung Stelle und Ort finde," gewährt in seinen Augen pba_162.004
nicht Anspruch auf den Namen einer Fabel, sondern höchstens auf den pba_162.005
einer "sinnreichen Dichtung".

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Damit hat aber Herder gerade den Punkt bestritten, auf dessen pba_162.007
Festhaltung Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel den größten pba_162.008
Wert legt. "Eine Handlung," sagt Batteux, "ist eine Unternehmung, pba_162.009
die mit Wahl und Absicht geschieht. -- Die Handlung setzet außer pba_162.010
dem Leben und der Wirksamkeit auch Wahl und Endzweck voraus und pba_162.011
kömmt nur vernünftigen Wesen zu."2 Lessing will diese Definition für pba_162.012
den Begriff der Handlung im Epos und Drama allenfalls gelten lassen, pba_162.013
obwohl er nicht unterläßt, nachdrücklich daran zu erinnern, daß "auch pba_162.014
jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen pba_162.015
Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei." Aber selbst pba_162.016
diese Erweiterung genügt ihm noch nicht für die Fabel: "neun Zehnteile pba_162.017
aller existierenden Fabeln, meint er, wären auszustreichen," wollte pba_162.018
man die Batteuxsche Erklärung als für sie maßgebend anerkennen. Jhm pba_162.019
ist der Begriff der Handlung erfüllt durch "eine bloße Folge von pba_162.020
Veränderungen,
" und um allem Streit über diese weiteste, dem pba_162.021
Sprachgebrauch wenig entsprechende Fassung aus dem Wege zu gehen, pba_162.022
entschließt er sich den Ausdruck "Handlung" in seiner Definition der pba_162.023
Fabel ganz fallen zu lassen und verlangt für sie nur die Darstellung pba_162.024
eines "einzelnen Falles," von welchem die Fabel gerade so viel, pba_162.025
und nicht mehr, zu erzählen habe, als hinreiche, den "allgemeinen pba_162.026
moralischen Satz," welchen sie enthalten solle, "anschauend erkennen pba_162.027
zu lassen."

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Man sieht, nach Lessing ist die Fabel nicht epischer Natur, pba_162.029
sondern sie wendet in ihrem letzten Zweck sich an unsere Erkenntnis, pba_162.030
sie ist lehrhaften Charakters; dieser fundamentale Jrrtum Lessings pba_162.031
beruht aber zu allermeist auf seiner falschen Ansicht über das Wesen pba_162.032
der Handlung.

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Es ist nicht schwer zu zeigen, daß sein eigener Beweis sich gegen pba_162.034
ihn wendet. Er lautet folgendermaßen: ""Zwei Hähne kämpfen mit pba_162.035
einander. Der Besiegte verkriecht sich. Der Sieger fliegt auf ein Dach, pba_162.036
schlägt stolz mit den Flügeln und krähet. Plötzlich schießt ein Adler pba_162.037
auf den Sieger herab und zerfleischt ihn."" "Jch habe das allezeit für

1 pba_162.038
a. a. O. S. 107.
2 pba_162.039
Vgl. Lessing, Abhandl. über die Fabel I (Hempel Bd. X, S. 43 u. ff.).

pba_162.001
Seele mit Wahl und Absicht sein?“1 Herder entscheidet sich für das pba_162.002
letztere; eine bloße „Zusammenstellung einer Gedankenfolge, damit pba_162.003
eine feine Bemerkung Stelle und Ort finde,“ gewährt in seinen Augen pba_162.004
nicht Anspruch auf den Namen einer Fabel, sondern höchstens auf den pba_162.005
einer „sinnreichen Dichtung“.

pba_162.006
Damit hat aber Herder gerade den Punkt bestritten, auf dessen pba_162.007
Festhaltung Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel den größten pba_162.008
Wert legt. „Eine Handlung,“ sagt Batteux, „ist eine Unternehmung, pba_162.009
die mit Wahl und Absicht geschieht. — Die Handlung setzet außer pba_162.010
dem Leben und der Wirksamkeit auch Wahl und Endzweck voraus und pba_162.011
kömmt nur vernünftigen Wesen zu.“2 Lessing will diese Definition für pba_162.012
den Begriff der Handlung im Epos und Drama allenfalls gelten lassen, pba_162.013
obwohl er nicht unterläßt, nachdrücklich daran zu erinnern, daß „auch pba_162.014
jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen pba_162.015
Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei.“ Aber selbst pba_162.016
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aller existierenden Fabeln, meint er, wären auszustreichen,“ wollte pba_162.018
man die Batteuxsche Erklärung als für sie maßgebend anerkennen. Jhm pba_162.019
ist der Begriff der Handlung erfüllt durch „eine bloße Folge von pba_162.020
Veränderungen,
“ und um allem Streit über diese weiteste, dem pba_162.021
Sprachgebrauch wenig entsprechende Fassung aus dem Wege zu gehen, pba_162.022
entschließt er sich den Ausdruck „Handlung“ in seiner Definition der pba_162.023
Fabel ganz fallen zu lassen und verlangt für sie nur die Darstellung pba_162.024
eines „einzelnen Falles,“ von welchem die Fabel gerade so viel, pba_162.025
und nicht mehr, zu erzählen habe, als hinreiche, den „allgemeinen pba_162.026
moralischen Satz,“ welchen sie enthalten solle, „anschauend erkennen pba_162.027
zu lassen.“

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Man sieht, nach Lessing ist die Fabel nicht epischer Natur, pba_162.029
sondern sie wendet in ihrem letzten Zweck sich an unsere Erkenntnis, pba_162.030
sie ist lehrhaften Charakters; dieser fundamentale Jrrtum Lessings pba_162.031
beruht aber zu allermeist auf seiner falschen Ansicht über das Wesen pba_162.032
der Handlung.

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Es ist nicht schwer zu zeigen, daß sein eigener Beweis sich gegen pba_162.034
ihn wendet. Er lautet folgendermaßen: „„Zwei Hähne kämpfen mit pba_162.035
einander. Der Besiegte verkriecht sich. Der Sieger fliegt auf ein Dach, pba_162.036
schlägt stolz mit den Flügeln und krähet. Plötzlich schießt ein Adler pba_162.037
auf den Sieger herab und zerfleischt ihn.““ „Jch habe das allezeit für

1 pba_162.038
a. a. O. S. 107.
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[162/0180] pba_162.001 Seele mit Wahl und Absicht sein?“ 1 Herder entscheidet sich für das pba_162.002 letztere; eine bloße „Zusammenstellung einer Gedankenfolge, damit pba_162.003 eine feine Bemerkung Stelle und Ort finde,“ gewährt in seinen Augen pba_162.004 nicht Anspruch auf den Namen einer Fabel, sondern höchstens auf den pba_162.005 einer „sinnreichen Dichtung“. pba_162.006 Damit hat aber Herder gerade den Punkt bestritten, auf dessen pba_162.007 Festhaltung Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel den größten pba_162.008 Wert legt. „Eine Handlung,“ sagt Batteux, „ist eine Unternehmung, pba_162.009 die mit Wahl und Absicht geschieht. — Die Handlung setzet außer pba_162.010 dem Leben und der Wirksamkeit auch Wahl und Endzweck voraus und pba_162.011 kömmt nur vernünftigen Wesen zu.“ 2 Lessing will diese Definition für pba_162.012 den Begriff der Handlung im Epos und Drama allenfalls gelten lassen, pba_162.013 obwohl er nicht unterläßt, nachdrücklich daran zu erinnern, daß „auch pba_162.014 jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen pba_162.015 Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei.“ Aber selbst pba_162.016 diese Erweiterung genügt ihm noch nicht für die Fabel: „neun Zehnteile pba_162.017 aller existierenden Fabeln, meint er, wären auszustreichen,“ wollte pba_162.018 man die Batteuxsche Erklärung als für sie maßgebend anerkennen. Jhm pba_162.019 ist der Begriff der Handlung erfüllt durch „eine bloße Folge von pba_162.020 Veränderungen,“ und um allem Streit über diese weiteste, dem pba_162.021 Sprachgebrauch wenig entsprechende Fassung aus dem Wege zu gehen, pba_162.022 entschließt er sich den Ausdruck „Handlung“ in seiner Definition der pba_162.023 Fabel ganz fallen zu lassen und verlangt für sie nur die Darstellung pba_162.024 eines „einzelnen Falles,“ von welchem die Fabel gerade so viel, pba_162.025 und nicht mehr, zu erzählen habe, als hinreiche, den „allgemeinen pba_162.026 moralischen Satz,“ welchen sie enthalten solle, „anschauend erkennen pba_162.027 zu lassen.“ pba_162.028 Man sieht, nach Lessing ist die Fabel nicht epischer Natur, pba_162.029 sondern sie wendet in ihrem letzten Zweck sich an unsere Erkenntnis, pba_162.030 sie ist lehrhaften Charakters; dieser fundamentale Jrrtum Lessings pba_162.031 beruht aber zu allermeist auf seiner falschen Ansicht über das Wesen pba_162.032 der Handlung. pba_162.033 Es ist nicht schwer zu zeigen, daß sein eigener Beweis sich gegen pba_162.034 ihn wendet. Er lautet folgendermaßen: „„Zwei Hähne kämpfen mit pba_162.035 einander. Der Besiegte verkriecht sich. Der Sieger fliegt auf ein Dach, pba_162.036 schlägt stolz mit den Flügeln und krähet. Plötzlich schießt ein Adler pba_162.037 auf den Sieger herab und zerfleischt ihn.““ „Jch habe das allezeit für 1 pba_162.038 a. a. O. S. 107. 2 pba_162.039 Vgl. Lessing, Abhandl. über die Fabel I (Hempel Bd. X, S. 43 u. ff.).

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/180>, abgerufen am 22.11.2024.