Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_158.001 1 pba_158.015
Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen pba_158.016 J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden pba_158.017 betrachtet. Jn dem schönen Buche W. Scherers über "J. Grimm" (2. Aufl. pba_158.018 Berlin 1885) heißt es darüber S. 291 ff. folgendermaßen: "Eine Schöpfung bewußter pba_158.019 Kunstthätigkeit ward von ihm als ein Produkt der bewußtlos schaffenden Naturkraft pba_158.020 des Geistes angesehen und grauer unvordenklicher Ueberlieferung zugeschrieben, was vor pba_158.021 den Augen der bezeugten Geschichte in seiner Entstehung und Ausbildung offenlag." pba_158.022 "Die ältesten Gedichte vom Wolf und Fuchs sind nicht älter als das zehnte Jahrhundert. pba_158.023 Sie sind von Klostergeistlichen verfaßt und stammen aus Flandern und pba_158.024 Lothringen. Jhre Nachahmung und Erweiterung, die Ausbreitung der poetischen Gattung, pba_158.025 welche sie begründeten, erstreckte sich während des Mittelalters von dort aus nicht pba_158.026 weiter als auf Nordfrankreich. Eine einzige Tierfabel wird bei Gothen und Baiern pba_158.027 schon in viel älterer Zeit erzählt, aber gerade bei ihr ist die Entlehnung aus griechischer pba_158.028 Fabel nicht nur möglich, sondern, wenn man die Chronologie ihres Auftretens verfolgt pba_158.029 und ihrer Umwandlung nachgeht, aus mehr als einem Grunde höchst wahrscheinlich. pba_158.030 Der alte skandinavische Norden, sonst der treueste Hüter der alten Schätze gemeinsamer pba_158.031 nationaler Poesie, weiß nichts von Reinhart und Jsengrim. Das neuere Skandinavien pba_158.032 teilt seine Tiermärchen mit den gar nicht verwandten Völkern der Lappen, Finnen und pba_158.033 Esthen." pba_158.034 "Der feindliche Gegensatz zwischen Fuchs und Wolf war in griechischen Fabeln pba_158.035 schon gegeben, von denen sich lateinische Bearbeitungen früh im Mittelalter verbreiteten. pba_158.036 Jhn ergriffen die Verfasser jener mittelalterlichen Gedichte und bildeten ihn mit großem pba_158.037 Behagen weiter aus..." pba_158.038 "Zu dem aus Äsopischen Stoffen mit einem Zusatze von allegorischer Satire komponierten pba_158.039 Grundstocke flossen indische Tierfabeln, mit anderen novellistischen Produkten pba_158.040 in die abendländische Litteratur einströmend, hinzu. Die geschulte Gewandtheit der lateinischen pba_158.041 Klosterdichter, die geschickte Kunstübung der nordfranzösischen Poeten verlieh der pba_158.042 Dichtung jenen reizenden epischen Ueberfluß, welcher in Jakob Grimms Augen ihr pba_158.043 einen so hohen Vorrang vor der Äsopischen Fabel verlieh, und welchem ihre Einführung pba_158.044 aus der französischen in die deutsche und niederländische Nationallitteratur verdankt wird." pba_158.001 1 pba_158.015
Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen pba_158.016 J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden pba_158.017 betrachtet. Jn dem schönen Buche W. Scherers über „J. Grimm“ (2. Aufl. pba_158.018 Berlin 1885) heißt es darüber S. 291 ff. folgendermaßen: „Eine Schöpfung bewußter pba_158.019 Kunstthätigkeit ward von ihm als ein Produkt der bewußtlos schaffenden Naturkraft pba_158.020 des Geistes angesehen und grauer unvordenklicher Ueberlieferung zugeschrieben, was vor pba_158.021 den Augen der bezeugten Geschichte in seiner Entstehung und Ausbildung offenlag.“ pba_158.022 „Die ältesten Gedichte vom Wolf und Fuchs sind nicht älter als das zehnte Jahrhundert. pba_158.023 Sie sind von Klostergeistlichen verfaßt und stammen aus Flandern und pba_158.024 Lothringen. Jhre Nachahmung und Erweiterung, die Ausbreitung der poetischen Gattung, pba_158.025 welche sie begründeten, erstreckte sich während des Mittelalters von dort aus nicht pba_158.026 weiter als auf Nordfrankreich. Eine einzige Tierfabel wird bei Gothen und Baiern pba_158.027 schon in viel älterer Zeit erzählt, aber gerade bei ihr ist die Entlehnung aus griechischer pba_158.028 Fabel nicht nur möglich, sondern, wenn man die Chronologie ihres Auftretens verfolgt pba_158.029 und ihrer Umwandlung nachgeht, aus mehr als einem Grunde höchst wahrscheinlich. pba_158.030 Der alte skandinavische Norden, sonst der treueste Hüter der alten Schätze gemeinsamer pba_158.031 nationaler Poesie, weiß nichts von Reinhart und Jsengrim. 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Gleich allem Epos, in nie still stehendem <lb n="pba_158.004"/> Wachstum, setzt sie Ringe an, Stufen ihrer Entwickelung zu bezeichnen, <lb n="pba_158.005"/> und weiß sich nach Ort, Gegend und den veränderlichen Verhältnissen <lb n="pba_158.006"/> menschlicher Einrichtungen unermüdlich von neuem zu gestalten und <lb n="pba_158.007"/> wieder zu gebären. Unter günstigem Luftstrich gedeiht sie und gewinnt <lb n="pba_158.008"/> Formen; wo aber die Zeit ihrer Blüte ungenutzt verläuft, stirbt sie allmählich <lb n="pba_158.009"/> aus und wird nur noch in bröckelhafter Volkssage dahingetragen. <lb n="pba_158.010"/> Es ist eben so widerstrebend echte Tierfabeln zu ersinnen, als <lb n="pba_158.011"/> ein anderes episches Gedicht. Alle Versuche scheitern, weil das Gelingen <lb n="pba_158.012"/> gebunden ist an einen unerfundenen und unerfindbaren Stoff, über <lb n="pba_158.013"/> den die Länge der Tradition gekommen sein muß, ihn zu weihen und <lb n="pba_158.014"/> festigen.“<note xml:id="pba_158_1a" n="1" place="foot" next="#pba_158_1b"><lb n="pba_158.015"/> Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen <lb n="pba_158.016"/> J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden <lb n="pba_158.017"/> betrachtet. Jn dem schönen Buche W. <hi rendition="#g">Scherers</hi> über „J. <hi rendition="#g">Grimm</hi>“ (2. 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denkliche, lang hingehaltene, zähe Ueberlieferung, die mächtig genug war, pba_158.002
sich in endlose Fäden auszuspinnen und diese dem wechselnden Laufe pba_158.003
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Wachstum, setzt sie Ringe an, Stufen ihrer Entwickelung zu bezeichnen, pba_158.005
und weiß sich nach Ort, Gegend und den veränderlichen Verhältnissen pba_158.006
menschlicher Einrichtungen unermüdlich von neuem zu gestalten und pba_158.007
wieder zu gebären. Unter günstigem Luftstrich gedeiht sie und gewinnt pba_158.008
Formen; wo aber die Zeit ihrer Blüte ungenutzt verläuft, stirbt sie allmählich pba_158.009
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Es ist eben so widerstrebend echte Tierfabeln zu ersinnen, als pba_158.011
ein anderes episches Gedicht. Alle Versuche scheitern, weil das Gelingen pba_158.012
gebunden ist an einen unerfundenen und unerfindbaren Stoff, über pba_158.013
den die Länge der Tradition gekommen sein muß, ihn zu weihen und pba_158.014
festigen.“ 1
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Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen pba_158.016
J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden pba_158.017
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Berlin 1885) heißt es darüber S. 291 ff. folgendermaßen: „Eine Schöpfung bewußter pba_158.019
Kunstthätigkeit ward von ihm als ein Produkt der bewußtlos schaffenden Naturkraft pba_158.020
des Geistes angesehen und grauer unvordenklicher Ueberlieferung zugeschrieben, was vor pba_158.021
den Augen der bezeugten Geschichte in seiner Entstehung und Ausbildung offenlag.“ pba_158.022
„Die ältesten Gedichte vom Wolf und Fuchs sind nicht älter als das zehnte Jahrhundert. pba_158.023
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Lothringen. Jhre Nachahmung und Erweiterung, die Ausbreitung der poetischen Gattung, pba_158.025
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und ihrer Umwandlung nachgeht, aus mehr als einem Grunde höchst wahrscheinlich. pba_158.030
Der alte skandinavische Norden, sonst der treueste Hüter der alten Schätze gemeinsamer pba_158.031
nationaler Poesie, weiß nichts von Reinhart und Jsengrim. Das neuere Skandinavien pba_158.032
teilt seine Tiermärchen mit den gar nicht verwandten Völkern der Lappen, Finnen und pba_158.033
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„Der feindliche Gegensatz zwischen Fuchs und Wolf war in griechischen Fabeln pba_158.035
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Jhn ergriffen die Verfasser jener mittelalterlichen Gedichte und bildeten ihn mit großem pba_158.037
Behagen weiter aus...“ pba_158.038
„Zu dem aus Äsopischen Stoffen mit einem Zusatze von allegorischer Satire komponierten pba_158.039
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in die abendländische Litteratur einströmend, hinzu. Die geschulte Gewandtheit der lateinischen pba_158.041
Klosterdichter, die geschickte Kunstübung der nordfranzösischen Poeten verlieh der pba_158.042
Dichtung jenen reizenden epischen Ueberfluß, welcher in Jakob Grimms Augen ihr pba_158.043
einen so hohen Vorrang vor der Äsopischen Fabel verlieh, und welchem ihre Einführung pba_158.044
aus der französischen in die deutsche und niederländische Nationallitteratur verdankt wird.“
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Zitationshilfe: | Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/176>, abgerufen am 16.02.2025. |