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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Namens wenig wert ist, wo wir das, was wir zu erwarten haben, schon pba_143.002
völlig voraussehen."

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Der wesentliche Unterschied liegt also nach Lessing darin, daß die pba_143.004
Fabel durch Erzählung eines einzelnen Falles eine allgemeine Wahrheit pba_143.005
unmittelbar "der Anschauung erkennbar" macht, während das Epigramm pba_143.006
niemals eine solche Aufgabe sich stellen oder lösen kann, sondern selbst pba_143.007
da, wo es in seinem ersten Teile einen einzelnen Fall erzählt, durch pba_143.008
seinen zweiten Teil die Aufmerksamkeit auf einen Gedanken zu lenken pba_143.009
hat, der wider Erwarten sich darin entdecken läßt, auf eine Beobachtung, pba_143.010
welche ihrer Natur nach der bloßen Anschauung sich entziehen pba_143.011
müßte.

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Aber der Unterschied ist noch weit größer und liegt noch tiefer im pba_143.013
Wesen der Sache begründet, als er von Lessings irrigem Standpunkte pba_143.014
in der Fabeltheorie wahrgenommen werden konnte.

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Eine Dichtung, welche darauf ausginge, "allgemeine Wahrheiten pba_143.016
zur anschauenden Erkenntnis zu bringen", oder gar, wie Herder will, pba_143.017
"eine Lehre darzustellen", gibt es nicht. Selbst da, wo sie sich der Gedankendarstellung pba_143.018
als ihres Mittels bedient, ist das Ziel, auf das sie pba_143.019
hinausgeht, die Erweckung psychischer Vorgänge, ob dieselben nun in pba_143.020
das Gebiet des Pathos oder das des Ethos gehören. Dies sind die pba_143.021
immer sich gleichbleibenden, aber in ihrer Mannigfaltigkeit unerschöpflichen pba_143.022
Gegenstände der lyrischen Poesie mit allen ihren Nebenarten; daß pba_143.023
dieselbe zur Erreichung desselben Zweckes sich auch der Darstellung eines pba_143.024
Vorganges, einer Begebenheit, einer äußeren Handlung bedienen kann, pba_143.025
daß sie in manchen ihrer Arten sogar so verfahren muß, ist im Vorstehenden pba_143.026
verschiedentlich gezeigt worden: ebenso aber auch, daß in allen pba_143.027
diesen Fällen die Darstellung der Handlung nur als Mittel auftritt, pba_143.028
niemals an und für sich der Zweck der Nachahmung ist, und daß deshalb pba_143.029
ihre Erzählung auch nur andeutungsweise erfolgt oder doch ganz pba_143.030
und gar bestimmt durch den eigentlichen Zweck, der jedesmal für die pba_143.031
Nachahmung maßgebend ist.

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Es gibt nun aber einen Fall, von welchem bisher noch gar nicht pba_143.033
die Rede gewesen ist, daß die Handlung nämlich zugleich das pba_143.034
Mittel und der Zweck der Darstellung ist,
daß sie selbst den pba_143.035
Gegenstand der Nachahmung
bildet: das dritte der drei Objekte, pba_143.036
in denen überhaupt sich alle Mimesis der Künste erschöpft, neben pba_143.037
Pathos und Ethos: die Handlung -- praxis. Dies ist der Fall pba_143.038
in aller epischen Poesie.

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Ehe aber die Anwendung dieses Satzes auf die hier gerade vorliegende pba_143.040
Erörterung der Theorie der Fabel gemacht werden kann, muß

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Namens wenig wert ist, wo wir das, was wir zu erwarten haben, schon pba_143.002
völlig voraussehen.“

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Der wesentliche Unterschied liegt also nach Lessing darin, daß die pba_143.004
Fabel durch Erzählung eines einzelnen Falles eine allgemeine Wahrheit pba_143.005
unmittelbar „der Anschauung erkennbar“ macht, während das Epigramm pba_143.006
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welche ihrer Natur nach der bloßen Anschauung sich entziehen pba_143.011
müßte.

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Aber der Unterschied ist noch weit größer und liegt noch tiefer im pba_143.013
Wesen der Sache begründet, als er von Lessings irrigem Standpunkte pba_143.014
in der Fabeltheorie wahrgenommen werden konnte.

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Eine Dichtung, welche darauf ausginge, „allgemeine Wahrheiten pba_143.016
zur anschauenden Erkenntnis zu bringen“, oder gar, wie Herder will, pba_143.017
„eine Lehre darzustellen“, gibt es nicht. Selbst da, wo sie sich der Gedankendarstellung pba_143.018
als ihres Mittels bedient, ist das Ziel, auf das sie pba_143.019
hinausgeht, die Erweckung psychischer Vorgänge, ob dieselben nun in pba_143.020
das Gebiet des Pathos oder das des Ethos gehören. Dies sind die pba_143.021
immer sich gleichbleibenden, aber in ihrer Mannigfaltigkeit unerschöpflichen pba_143.022
Gegenstände der lyrischen Poesie mit allen ihren Nebenarten; daß pba_143.023
dieselbe zur Erreichung desselben Zweckes sich auch der Darstellung eines pba_143.024
Vorganges, einer Begebenheit, einer äußeren Handlung bedienen kann, pba_143.025
daß sie in manchen ihrer Arten sogar so verfahren muß, ist im Vorstehenden pba_143.026
verschiedentlich gezeigt worden: ebenso aber auch, daß in allen pba_143.027
diesen Fällen die Darstellung der Handlung nur als Mittel auftritt, pba_143.028
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ihre Erzählung auch nur andeutungsweise erfolgt oder doch ganz pba_143.030
und gar bestimmt durch den eigentlichen Zweck, der jedesmal für die pba_143.031
Nachahmung maßgebend ist.

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Es gibt nun aber einen Fall, von welchem bisher noch gar nicht pba_143.033
die Rede gewesen ist, daß die Handlung nämlich zugleich das pba_143.034
Mittel und der Zweck der Darstellung ist,
daß sie selbst den pba_143.035
Gegenstand der Nachahmung
bildet: das dritte der drei Objekte, pba_143.036
in denen überhaupt sich alle Mimesis der Künste erschöpft, neben pba_143.037
Pathos und Ethos: die Handlung — πρᾶξις. Dies ist der Fall pba_143.038
in aller epischen Poesie.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/161>, abgerufen am 22.11.2024.